Offene Rechnungen

Lateinamerika. Analysen und Berichte Band 20

Horlemann Verlag Bad Honnef 1996 · ISBN 3-89502-047-8

(herausgegeben von K. Gabbert, W. Gabbert, B. Hoffmann, A. Koschützke, K. Meschkat, C. Müller-Plantenberg, U. Müller-Plantenberg, E. von Oertzen und J. Ströbele-Gregor)

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Inhaltsverzeichnis

Editorial 7

Offene Rechnungen

I Analysen 13

David Becker: 15

Chile: Wirtschaftsmythos und Menschenrechtsrealität
in der Nachdiktatur

Ricarda Knabe: 31

Die vergessenen Frauen der Revolution

Dokumentation: 47

»Die Themen, die die Linke am hartnäckigsten verschwiegen hat«

Urs Müller-Plantenberg: 55

Was von den Multis noch zu erwarten ist

Elmar Römpczyk: 78

Biodiversität - Ein dramatischer Konflikt,
aber auch eine Chance für den Süden

Dieter Gawora: 94

Wer kennt die Kosten der Aluminiumproduktion?

Paul Singer: 117

São Paulo: Industrielle Krise und Deindustrialisierung

Bert Hoffmann: 139

Kubanische Comebacks

II Berichte 159

Barbara Fritz: 161

Wie leicht ist es, Brasilien zu regieren?

Michael Krämer: 172

El Salvador: Frieden als lästige Pflicht

Christiane Schulte: 181

Guatemala: Hoffnungen auf Umbruch

Albrecht Koschützke: 191

Haiti: Aller Anfang ist schwer

Ralf Leonhard: 202

Kolumbien im Zustand innerer Erschütterung

Dietmar Dirmoser: 212

Kuba: Krise und Reformen

Barbara Beck und Marianne Braig: 226

Mexiko: Der lange Schatten des Salinismus

Dorothea Melcher: 240

Venezuela: der unaufhaltsame Abstieg:

Autorinnen und Autoren dieses Bandes 251


Editorial: Offene Rechnungen

Ein Rückblick läßt sich kaum vermeiden, wenn eine Jahrbuchreihe die Nummer 20 erreicht hat - es sei denn, die Herausgeber wollten das lästige Bilanzieren gleich bis zum runden Vierteljahrhundert vertagen. Rückblicke sind fast immer unbequem, weil sie an nicht eingelöste Versprechen erinnern, an Vorsätze, zu deren Ausführung die Kräfte nicht reichten - und sie können leicht peinlich werden, wenn Blütenträume nostalgisch beschworen werden.

Bei einem Jahrbuch, das 1977 im düsteren deutschen Herbst das Licht einer nicht eben freundlichen Welt erblickte, könnte allerdings eine nostalgische Verklärung seines Beginns nur Gedächtnisschwäche bezeugen. Es galt ja, Niederlagen zu verarbeiten: die der chilenischen Unidad Popular lag noch nicht so weit zurück, und im ersten Argentinien-Länderbericht war die Machtübernahme eines besonders gewalttätigen Militärregimes zu vermelden, das Tausende von Opfern forderte. Militärdiktaturen waren damals die vorherrschende Regierungsform auf dem Subkontinent, und wir stellten uns die Aufgabe, den Zusammenhang zwischen dieser Herrschaftsform und den Akkumulationsstrategien des internationalen Kapitals aufzudecken. Die innere Logik eines Systems von Ausbeutung und Unterdrückung im Weltzusammenhang war herauszuarbeiten - also Kritik des politischen Ökonomie, bezogen auf Lateinamerika.

Dennoch wollten wir wohl etwas mehr als die Allmacht unserer Gegner nachzeichnen und sachverständig erklären. Soziale Kämpfe, Widerstand, Praxis der Befreiung waren nicht zufällig Schlüsselworte der ersten Jahrbuchbände. Nach allen Niederlagen galt es, die Kräfte zu identifizieren, die imstande waren, neue Kampfformen zu entwickeln, dauerhafte Bündnisse zustandebringen und sich, so gestärkt, einem übermächtig erscheinenden Gegner entgegenzustellen. Dahinter stand allerdings immer die Überzeugung, daß es eine grundsätzliche Alternative zum kapitalistischen Weltsystem geben müßte, und daß wir mit unseren lateinamerikanischen Weggefährten durch das gemeinsame Ziel einer befreiten Gesellschaft verbunden waren, für die wir damals in bewußter Abgrenzung zu allen »real existierenden« Sozialismen ganz selbstverständlich den Namen »Sozialismus« in Anspruch nahmen. Vor fünfzehn Jahren, im Jahrbuch 5, erklärte unser brasilianischer Freund Paul Singer in einem immer noch erhellenden Text »Was heute Sozialismus ist« schon lange vor dem Verschwinden der Sowjetunion, weshalb der Sozialismus in den rückständigen Ländern nach der Eroberung der politischen Macht nicht verwirklicht werden konnte, wie sich die Verwandlung der Revolutionäre in Bürokraten nahezu zwangsläufig vollzogen hat - und warum nach all diesen Erfahrungen der Sozialismus als Bewegung mit dem Kampf gegen autoritäre Strukturen in allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen identisch ist. Im selben Sinne plädierte damals Aníbal Quijano ebenfalls in Band 5 unter Berufung auf die Selbstorgansiation in einem Elendsviertel von Lima für die direkte Demokratie der Produzenten.

Auch wir in diesem Jahrbuch sind immer in Gefahr, die besseren Einsichten von gestern zu vergessen und zu verdrängen - auch uns mögen Nashörner wachsen, wenn wir uns die Parolen der Helden des Ionesco-Stücks zu eigen machen: »Man muß mit der Zeit gehen.« »Jeder hat das Recht, sich weiter zu entwickeln.« Wir müssen aufpassen, daß nicht auch auf unseren Seiten die untergegangenen Staatsgebilde des Moskauer Imperiums ohne Anführungszeichen sozialistische Länder genannt werden, daß Sozialismus und zentralistische Staatssklaverei, der FAZ-Sprachregelung folgend, umstandslos gleichgesetzt werden: Die unreflektierte Preisgabe mühsam erarbeiteter Erkenntnisse beginnt häufig mit der bequemen Übernahme modischer Terminologie, die von den Sprachrohren der Herrschenden suggeriert wird. Aber die Herausgeber wollten natürlich die Beschäftigung mit dem Vergessen und Verdrängen, ihr selbstgewähltes Thema für ein Erinnerungs-Jahrbuch 20, nicht in erster Linie als Analyse des eigenen Denkens und Verhaltens betreiben, sondern damit das vorgegebene regionale Themenfeld erreichen, Lateinamerika.

Da ist zuerst zu fragen, was es bedeutet, wenn Vergessen und Verdrängen zum Grundprinzip einer politischen Ordnung erhoben wird, und das gilt für alle Länder, die ihre RFCckkehr zu zivilen Formen bürgerlicher Herrschaft einem Pakt mit den Henkern verdanken. Die Verbrechen von gestern sollen nicht nur vergeben sein - sie müssen vergessen werden, damit gleichberechtigte »Akteure«, ohne Vorgeschichte, ungleich gewichtet nur durch die unterschiedliche Finanzkraft ihrer Hintermänner, die Szene betreten und unbelastet um die Gunst der Wähler konkurrieren können. David Becker zeigt am Beispiel Chile, was das für die Opfer bedeutet und wie eine Gesellschaft beschaffen ist, die sie erneut an den Rand drängt. Die Frage nach dem Vergessen betrifft aber nicht nur »Vergangenheitsbewältigung« in Ländern, die eine Diktatur hinter sich gebracht haben. Sie stellt sich auch in Ländern wie Kolumbien oder Venezuela, wo die Willkür des Militärapparats und seiner paramilitärischen Komplizen mit der Aufrechterhaltung formaler Demokratie einhergegangen ist - nicht umsonst wird diese Konstellation in vielen Länderberichten dieses Bandes angesprochen oder ist sogar ihr Leitmotiv.

Die Erinnerung an die Ursprünge des Jahrbuchs hat schon gezeigt, warum wir die Rolle multinationaler Konzerne behandeln, obwohl sie von tonangebenden Akteuren gar nicht als Problem, sondern als die Lösung aller Probleme begriffen wird: Ein Land, das Auslandskapital anzieht, hat es ja geschafft. Deshalb ist es auch gar nicht einfach, für ein dermaßen aus der Mode gekommenes Thema den passenden Text eines lateinamerikanischen Autors zu finden. Unser Mitherausgeber Urs Müller-Plantenberg hat sich dem Thema zugewandt und ebenso unzeitgemäße wie überraschende Einsichten zutage gefördert, die im Widerspruch zu den meisten heute gängigen Annahmen über die positive Rolle des multinationalen Kapitals im Modernisierungsprozeß stehen. Die Schlußfolgerungen läßt der Artikel offen: Dem Leser drängt sich dennoch unabweisbar die Frage nach einer grundsätzlichen Alternative zum vorherrschenden Wirtschaftsmodell auf.

Die Herausgeber haben diese Frage aus verständlichen Gründen schnell an einen brasilianischen Freund weitergereicht, der das Jahrbuch seit seinen Anfängen begleitet hat. Paul Singer, der uns einst den Sozialismus erklärt hatte, analysiert die Deindustrialisierung im Großraum São Paulo. Trotz der Überfülle an Zahlen lohnt es sich, seine Analyse im Detail nachzuvollziehen, weil sie die Folgen der Globalisierung für den größten Industrieraum Südamerikas konkret zeigt: eine Vernichtung großer Teile der Industrie, einen dramatischer Rückgang der Zahl der Fabrikarbeiter. Wenn gerade Paul Singer in früheren theoretischen Debatten gegen kurzatmige Zusammenbruchstheorien und -illusionen polemisiert und die Lebensfähigkeit des brasilianischen Kapitalismus behauptet hat, so scheint seine heutige Analyse eher eine strukturelle Dauerkrise des Systems zu beweisen. Daraus leitet er aber keineswegs ab, daß die Mehrheit eine grundsätzliche Alternative anstrebt: Sie habe sich bei den letzten Wahlen angesichts des Traumas der Inflation im Interesse von Stabilisierung deutlich für »die Unterordnung von Entwicklung unter die Dynamik des internationalisierten Kapitals« entschieden. Die Rahmenbedingungen von Marktöffnung und Strukturanpassung würden sich in den nächsten Jahren nicht verändern und zwangsläufig weitere Deindustrialisierung sowie als deren Folgen steigende Arbeitslosigkeit und Informalisierung hervorbringen.

Wie kann eine Linke auf diese Situation reagieren? Paul Singers Schlußfolgerungen sind bemerkenswert: Weil das Ganze nicht in Frage gestellt werden kann, muß sie auf die durch die Globalisierung geschaffene Situation reagieren und dazu beitragen, daß die 40 Prozent der Bevölkerung, die als Arbeitslose und informell Beschäftigte auf der Strecke bleiben, nicht in Dreck und Elend untergehen. Immerhin gibt es progressive Stadtregierungen, die über eine Kompensationspolitik zur Linderung extremer Armut hinausgehen und ihre Ressourcen zur Förderung alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten bündeln könnten. So würden durch den Anstoß gezielter Förderung auf kommunaler oder regionaler Ebene neue Unternehmen entstehen, deren Produkte für lokale Abnehmer erschwinglich wären, zum Beispiel ein System von Produktions- und Konsumkooperativen, »effizienter und verantwortungsvoller als Staatsunternehmen und nicht dem Diktat des Finanzkapitals unterworfen.« Dies alles natürlich auf dem Hintergrund, daß die vorherrschende Ökonomie (einstweilen?) nicht aus den Angeln gehoben wird, deren Bewegungsgesetze und Folgen der Marxist Paul Singer genau erforscht und darlegt. Seine knapp gefaßten Schlußfolgerungen werden hier so ausführlich referiert, weil sie eine neue Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnten. Interessanterweise berühren sie sich auch mit dem Konzept einer »Ökonomie der Solidarität«, wie sie Luis Razetto in Fortsetzung seiner Analysen der wirtschaftlichen Basisorganisationen in Chile (Jahrbuch 10) entwickelt hat.

Paul Singer präsentiert uns am Beispiel der Beschäftigungsmöglichkeiten im Großraum São Paulo die offenen Rechnungen einer von transnationalen Unternehmen beherrschten Wirtschaftsweise. »Offene Rechnungen« der multinationalen Konzerne werden auch in weiteren Beiträgen unseres Bandes ausgebreitet. Dieter Gawora beschreibt die Folgen der von einem multinationalen Konzern kontrollierten Bauxitgewinnung, Energieerzeugung und Aluminiumproduktion in Brasilien - die physische Verdrängung = Vertreibung Tausender von Menschen, deren Lebensbasis zerstört wird, gehört dazu. Elmar Römpczyk analysiert den Hintergrund des Konflikts zwischen Chemie-Multis, die sich die Nutzung der Artenvielfalt tropischer Länder kostenlos aneignen wollen, und indianischen Völkern, die ihren natürlichen Reichtum bewahren und seine Verwertung kontrollieren möchten. In beiden Fällen wird nur gefordert, daß die Multis für die Folgen ihrer Aktivitäten (teilweise) aufkommen oder die Menschen der Herkunftsregionen ihrer Reichtümer an den Ergebnissen ihrer profitablen Geschäfte beteiligen. Ein Gegenentwurf, der dem internationalen Kapital überhaupt den unmittelbaren Zugriff auf die natürlichen Ressourcen eines Landes entziehen würde, ist offenbar nicht in Sicht und wird nicht einmal verbal beschworen.

Offene Rechnungen, Verdrängen, Vergessen. Die Fragen unseres Bandes richten sich auch an diejenigen, die eine grundsätzliche Alternative zur herrschenden Ordnung versprochen und mit dem Einsatz ihres Lebens dafür gekämpft haben. Ricarda Knabe übermittelt uns die offenen Rechnungen der Frauen, deren Befreiung aus den Befreiungskämpfen der Guerilla ausgeklammert wurde, ja die als Opfer dieser Kämpfe auf der Strecke blieben. Der »real existierende« bewaffnete Kampf hat nicht den neuen Menschen geschmiedet, sondern die Werte der Macho-Gesellschaft bestätigt. Immerhin stellen sich in El Salvador die gewesenen Führer heute wenigstens den Fragen der Frauen, die von ihnen beschädigt wurden, dies ist ein Fortschritt auf einem sicher noch langen Wege.

Wenn wir auch die offenen Rechnungen von Befreiungsbewegungen präsentieren, dann gewiß nicht, um uns denen zuzugesellen, die triumphierend das Scheitern aller radikaler Emanzipationsbestrebungen verkünden und das Sicheinfügen in die herrschende Ordnung für unvermeidlich oder sogar wünschenswert erklären. Vielleicht ist die bisherige vorgeblich revolutionäre Praxis gerade daran gescheitert, daß sie nicht radikal genug war, daß sie die Wurzeln von Unterordnung und Ausbeutung gar nicht erreichte. Ist denn ein Sieg der Unterdrückten denkbar, solange das Potential des Widerstands nur zu einem Bruchteil aktiviert wird? Positiv gewendet: Wieviel tiefergehend könnten revolutionäre Prozesse der Zukunft sein, wieviel näher am Ziel der Verwirklichung einer befreiten Gesellschaft, wenn sie von der Mehrheit der Frauen mitgetragen und mitgestaltet würden!

Solche Fragen müssen auch an die Revolution gestellt werden, an die sich in Lateinamerika wie bei uns so viele Hoffnungen geknüpft haben, und deren endgültige Niederlage unser aller Niederlage wäre. Bert Hoffmann zeigt, wie auf Kuba überwunden geglaubte Vergangenheit zurückkehrt. Hilflose und fehlgeleitete Versuche der Führung, dem entgegenzusteuern, laufen auf autoritäre Verhärtungen hinaus, wie sie leider in jüngster Zeit in einem repressiven Vorgehen gegen eine kritische Sozialwissenschaft zum Ausdruck kommt. Dabei kann nur eine Ermutigung unreglementierter Basisaktivitäten und freier Diskussion in allen gesellschaftlichen Bereichen dazu führen, daß das immer noch vorhandene Widerstandspotential gegen den Würgegriff des Nachbarn aus dem Norden gestärkt wird. Nur so wird die Revolution überleben können.

Als wir unser Lateinamerika-Jahrbuch vor zwanzig Jahren begannen, wollten wir anhand der Strukturen und Konflikte auf dem Subkontinent die internationalen Dimensionen von Herrschaft und Ausbeutung diskutieren. Nach diversen asiatischen Erfolgsstories kapitalistischen Aufstiegs und dem spektakulären Verschwinden des Ostblock-Imperiums hat sich die Aufmerksamkeit der Beobachter und Erforscher globaler Zusammenhänge von Lateinamerika ab- und anderen Erdteilen zugewandt - wir mußten in den letzten Jahren zuweilen ein nachlassendes Interesse an »unseren« Ländern registrieren und haben uns manchmal die Frage gestellt, ob sich unser Unterfangen weiter lohnt. Wir glauben, daß auch dieser Band der »Offenen Rechnungen« zeigt, daß sich zentrale Fragen internationalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipationsbewegungen gerade in Lateinamerika in exemplarischer Weise stellen: Die neu begonnene Diskussion über alternative Entwicklungsstrategien wollen wir mit Hilfe unserer lateinamerikanischen Freunde fortsetzen, vielleicht mit dem Schwerpunkt auf dem Agrarsektor.

Bleibt der Dank an den Verlag, der unser Buch hervorragend betreut, an eine Übersetzerin aus dem Portugiesischen, die einen sperrigen Text dem deutschen Leser erst zugänglich gemacht hat, an die wie immer unentgeltlich arbeitenden Autoren, auch der Länderberichte, von deren Qualität in hohem Maße der Gebrauchswert unseres Jahrbuchs abhängt und denen wir wie immer keine geringere Bedeutung zumessen als den Beiträgen zum Artikelteil.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber


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