Zur politischen Ökonomie und politischen Soziologie des Lassens

Urs Müller-Plantenberg

 

There will be an answer, let it be.
John Lennon und Paul McCartney

Sonderabschreibungen - ein Bombenerfolg?

Am 31. Dezember 1996 ist ein Programm ausgelaufen, das es gestattete, Investi­tionen in Immobilien auf dem Gebiet der ehemaligen DDR schon im ersten Jahr zu 50 Prozent abzuschreiben. Das bedeutete, daß das zu versteuernde Einkom­men des jeweiligen Investors vor der Besteuerung im ersten Jahr um die Hälfte des investierten Betrags gesenkt werden kann, für die dann also keine Einkom­mensteuer gezahlt werden muß.

Nimmt man den Betrag der insgesamt investierten Kapitalien als Maßstab des Erfolges des Programms, so ist es ein Bombenerfolg gewesen: Die Gesamtsumme der in Deutschland veranlagten Einkommensteuer ist von 41 Milliarden DM im Jahr 1991auf 13 Milliarden DM im Jahr 1996 gesunken, und das ist ganz wesent­lich ein Ergebnis der Tatsache, daß dieses Sonderabschreibungsprogramm für Privatpersonen und Unternehmen als Krönung zu den vielen anderen Möglich­keiten hinzugetreten war, die zu zahlende Einkommensteuer zu verringern. In der­selben Zeitspanne ist die von den Beschäftigten einbehaltene Lohnsteuer nach Angaben des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung von 214,5 Milliarden DM auf 251,5 Milliarden DM gestiegen. (Vgl. das Jahresgutachten 1991/92, S. 137ff. mit dem Jahresgutachten 1996/97, S. 134ff.). Der Sachverständigenrat stellt inzwischen fest: "Aufgrund der vielfältigen Anrechnungsmöglichkeiten bei der veranlagten Einkommensteuer wird deren Aufkommen zunehmend zu einer Restgröße, der keinerlei Informationswert mehr zukommt" (ebendort, S. 136). Trifft man die - für diesen spezifischen Zweck vor­sichtigste - Annahme, daß alle Anleger für das abgeschriebene Investitionsvolu­men den Spitzensteuersatz von 53 Prozent hätten zahlen müssen, so beträgt der gesamte Investitionstransfer in die neuen Bundesländer knapp das Vierfache des­sen, was dem Bundesfinanzminister an Steuereinnahmen nach diesem Konzept in den letzten Jahren entgangen ist, also wahrscheinlich mehrere hundert Milliarden DM. Genau läßt sich das nicht sagen, denn - so wieder der Sachverständigenrat - "das Volumen der einzelnen Fördermaßnahmen ist kaum noch erkennbar" (ebendort). Die so geschaffene Finanzklemme der Bundesrepublik hätte demnach wenigstens dem guten Zweck gedient, einen enormen Investitionsschub auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu bewirken und so den angestrebten Aufschwung Ost zu befördern.

Vielleicht, aber für wen?

Sieht man allerdings etwas genauer hin, so stellt man fest, daß in Wirklichkeit mit diesem Sonderabschreibungsprogramm zwischen 1990 und 1996 keineswegs ein Vermögenstransfer von West nach Ost oder gar ein Beitrag zur innerdeutschen sozialen Gerechtigkeit stattgefunden hat, sondern lediglich eine Umverteilung von Vermögen aus den Taschen des Staates - sprich: der wirklich ihre Steuern zah­lenden Bürgerinnen und Bürger - in die offenen Hände der einkommensstarken Schichten. Bei einem progressiven Steuertarif kommt ja die Förderung über Son­derabschreibungen nur denen wirklich voll zugute, die ein relativ sehr hohes Einkommen haben und eigentlich deshalb auch sehr viele Steuern zahlen müßten. Der Spitzensteuersatz von 53 Prozent wird erst bei einem Monatseinkommen von mehr als 10.000 DM wirksam.

Erwarb beispielsweise ein Spitzenverdiener mit einem Jahreseinkommen von mehr als 370.000 DM vor Ende 1996 eine zu vermietende Wohnung im Osten Deutschlands zu Baukosten von einer viertel Million DM, so konnte er damit rechnen, daß ihm das Finanzamt sofort 66.250 DM Einkommensteuer und gleich auch noch 4.968,75 DM Solidarbeitrag erließ, insgesamt also 71.218,75 DM. Bezieher kleinerer Einkommen erhielten wegen ihres niedrigeren Grenzsteuersatzes auch dann weniger Steuererlaß, wenn sie das gleiche Volumen investierten und sich dafür verschuldeten. Diese Eigenschaft von Förderungsprogrammen durch Steuerlaß verhöhnt jede Idee von sozialer Gerechtigkeit und stellt nur deshalb keinen Dauergegenstand öffentlicher Erregung dar, weil die Materie als zu schwierig gilt und deshalb gern "Fachleuten" wie Steuerberatern, Investitionsrat­gebern und Immobilienhändlern überlassen wird, die selbst mit der Sache ganz unmittelbare Interessen verbinden.

Eine renditeträchtige Anlage der investierten Kapitalien vorausgesetzt, erwiese sich das angebliche Hilfsprogramm für den wirtschaftlichen Aufschwung  der neuen Bundesländer als eine gigantische Umverteilungsmaschine zugunsten der - vorwiegend westdeutschen - Reichen im Lande.

Vielleicht aber auch gar nicht

Nun ist aber auch das nur die halbe Wahrheit, denn von einer renditeträchtigen Anlage der investierten Kapitalien kann in sehr vielen Fällen gar keine Rede sein. Im Gegenteil: Die Wirtschafts- und Immobilienteile der seriösen Zeitungen berichten Ende 1996, Anfang 1997 über einen aufgrund eines enormen Überan­gebots an Neubauten faktisch zusammenbrechenden Immobilienmarkt mit stark - seit 1993 um ein Drittel (DER SPIEGEL Nr. 51/1996, S.90) - sinkenden Büro­mieten, entsprechend fallenden Renditen und korrespondierenden Wertverlusten der Investitionsobjekte. Überall im Osten Deutschlands stehen Wohnungen leer, in viele Leipziger Bürohäuser ist kein einziger Mieter eingezogen, in Berlin ist mehr als eine Million Quadratmeter vorläufig zu den Mieten, die auf der Basis der Baukosten verlangt werden müßten, unvermietbar. "Berlin ist wie Leipzig und Dresden ein künstlich hochgezüchteter Markt", sagt Peter Rösler, Chef des Maklerunternehmens Müller International in der Berliner Zeitung Der Tages­spiegel: "Aufgrund der steuerlichen Anreize setzten bei den meisten Beteiligten die intellektuellen Fähigkeiten aus." (9. Februar 1997).

Was als große, solidarische Wohltat für den Osten Deutschlands geplant war und von den Reichen im Lande zu einem großen Reibach genutzt werden sollte, erweist sich letztendlich als eine gigantische Verschleuderung knapper Ressour­cen und damit als ein Vergehen gegen alle Grundsätze der Politischen Ökonomie einschließlich ihrer Kritik.

Warum machen die das?

Hier stellt sich die Frage, ob es tatsächlich ausreicht, die Ausnutzung der steuerlichen Anreize um jeden Preis mit einem Aussetzen der intellektuellen Fähigkeiten der Beteiligten zu erklären oder, wie das DER SPIEGEL (Nr. 51/1996, S. 94) tut, mit einem Mangel an "sozialer und emotionaler Intelligenz" bei den Investoren. Bei dem Rückgang des Aufkommens der Einkommensteuer in den letzten Jahren muß ja der größere Teil der oberen Einkommensschichten der Republik beteiligt gewesen sein. Zu fragen wäre: Warum machen die das alle? Warum lassen sie sich zu Hunderttausenden auf Investitionsmodelle ein, die sie im Zweifelsfall nicht überblicken und die ihnen auf die Dauer Verluste ein­bringen, die über die Steuerersparnisse teilweise weit hinausgehen?

Der homo oeconomicus, wie ihn die Politische Ökonomie zugleich voraussetzt und fordert, würde den Zweck einer Investition zu den aufgewandten Mitteln genauestens ins Verhältnis setzen, den möglichen Nutzen genauso akribisch kalkulieren wie die zu erwartenden Kosten. Er würde die neuesten Erkenntnisse der Betriebswirtschaft zur Abschätzung und Abwägung unterschiedlicher Risiken nutzen und würde im Zweifelsfall sogar mit Karl Marx darauf bestehen, daß einen Tauschwert nur haben kann, was auch einen Gebrauchswert hat. Natürlich würde er die steuerlichen Anreize in seinem Kalkül mit berücksichtigen. Werden etwa 20 Prozent einer Investition vom Staat getragen, so können sich die kluge Anlegerin und der gescheite Investor mit einer zu erwartenden Rendite zufrie­dengeben, die um 20 Prozent niedriger liegt als die Rendite vergleichbarer Projekte. Das ist zwar dann - nach der Logik, die den "freien Markt" zum Maßstab aller Dinge macht - auch eine Fehlallokation knapper Ressourcen, inso­fern der Beitrag des Staates so behandelt wird, als ob er selbst keine direkten Früchte zu tragen braucht, aber dafür ist schließlich der Staat verantwortlich. Der homo oeconomicus würde ein Investitionsprojekt nur tätigen, wenn es "sich rechnet", das heißt, wenn alle Daten dieses durch und durch rationalen und ego­istischen Kalküls in der geeigneten Weise zusammenstimmen. Sonst würde er es einfach lassen.

Ganz offenbar entspricht ein großer Teil der tatsächlich investierenden Privatpersonen nicht den von der Politischen Ökonomie aufgestellten Annahmen und Anforderungen. Hier könnte die Politische Soziologie immerhin den Versuch machen, ein Verhalten zu erklären, das so häufig gegen die eigenen Interessen gerichtet ist.

Da ist zunächst einmal festzustellen, daß der Anstoß zu Investitionen, die dann im Rahmen von staatlichen Programmen durch Steuersubventionen gefördert werden, fast nie vom Markt kommt, sondern von diesen Förderprogrammen selbst. Das ist auch durchaus so intendiert, denn durch die staatliche Förderung sollen ja Investitionen in einen bestimmten Sektor der Ökonomie gelenkt werden, in den sie von selbst wahrscheinlich nicht in demselben Ausmaß finden würden. Es ist also nicht eine profitträchtige Idee, die hier am Anfang steht, oder die Entdeckung einer Marktlücke, sondern das Bestreben, das eigene Vermögen dadurch zu steigern, daß das Finanzamt daran gehindert wird, mittels der Steuer darauf zuzugreifen.

Dieses Bestreben wird in der Gesellschaft systematisch unterstützt. Die mit der Steuerberatung befaßten Personen und Firmen sehen es als ihre vornehmste Aufgabe an, die Steuerlast ihrer vermögenden Mandantinnen und Mandanten dadurch zu verringern, daß sie sie auf alle Möglichkeiten der Steuerminderung frühzeitig aufmerksam machen, und dazu gehören vor allem Investitionsprojekte mit hoher Abschreibung oder mit Gelegenheit zum "Verlustvortrag" auf kommende Jahre und wie die ausgetüftelten und für Laien vielfach schwer durchschaubaren Muster legaler Steuerminderung alle heißen.

Jede Bank, die etwas auf sich hält, bietet den Kundinnen und Kunden, über deren Girokonto höhere Beträge laufen, automatisch einen Anlageberatungs-Ser­vice mit einer Vertrauensperson in der nächstgelegenen Filiale.

Auf dem Buchmarkt sind die Titel, die hundert oder gar tausend "legale Steuertricks" versprechen, die wahren Bestseller. Wer sich nicht an dem Spiel beteiligt, auf Kosten des Staats - natürlich ganz legal - ein "Schnäppchen" zu machen, ist nicht auf der Höhe der Zeit, gilt als zurückgeblieben.

Auf die so vorbereiteten Reichen im Lande, bei denen die kleinen Tricks nicht ausreichen, ihre Steuerschuld gegen Null zu reduzieren, und die es sich aus unterschiedlichen Gründen nicht leisten können, gleich ihren Wohnort steuersparend in eine der "Steueroasen" dieser Welt zu verlegen, trifft jetzt die gesammelte Energie einer Branche, die sich seit langem auf die Durchführung und Verwaltung von Abschreibungsprojekten spezialisiert hat und die natürlich mit dem Sonderabschreibungsprogramm für Ostdeutschland, einem "Jahrhundertgeschenk", wie das Handelsblatt schreibt, enorm gewachsen ist. Hier wird, wie das bei jeder Werbung üblich ist, das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Oder auch Blitz und Donner, die sich dann als Segen auswirken sollen: Weil nach den Abschreibungsprogrammen Verluste sich unter gewissen Umständen als steuermindernd verbuchen lassen, werben die Investitionsfonds bisweilen mit der Höhe der Verluste, die sich aus ihren Projekten ergeben, als einer Garantie für die erstrebte Senkung der Steuerschuld. Daß die Investitionsprojekte möglicherweise für Kundinnen und Kunden auch Verluste bedeuten könnten, die über die Steuerminderung weit hinausgehen, erfährt man in den Hochglanzprojekten der Fonds nie, wie ihnen überhaupt eine Packungsbeilage fehlt, in denen über Risiken und Nebenwirkungen Auskunft gegeben würde.

Warum lassen die das nicht?

Trotz all dieser Lobbies und mächtigen Interessengruppen, die sich auf die indirekte Steuersenkung konzentrieren und denen die Finanzämter nicht einmal gründlich Widerpart bieten, stellt sich doch die Frage, warum offenbar nur sehr wenige Leute aus den höheren Einkommensschichten geneigt sind, das Risiko windiger Anlageprojekte grundsätzlich zu meiden und schlicht und einfach ihre Steuern zu zahlen. Warum lassen die das nicht?

Offenbar gibt es über die Schwierigkeiten, Risiken eines Projekts wirklich abzuschätzen, hinaus ein weitverbreitetes und historisch gewachsenes grundsätzliches Unvermögen, darüber nachzudenken, ob man bestimmte Dinge nicht überhaupt lassen sollte. Die allgemein akzeptierte Devise lautet: Wenn etwas als Übel erkannt ist und es die Möglichkeit gibt, etwas dagegen zu tun, dann muß man etwas dagegen tun und darf allenfalls prüfen, was man tun sollte. Ob dadurch schädliche Nebenwirkungen eintreten oder sich das Übel gar noch vergrößert, spielt keine Rolle. Das Lassen scheidet jedenfalls aus den Überlegungen aus.

Nun wird das Zahlen von Steuern allgemein bis hin zu den Finanzministern als leidiges Übel erkannt. Also, lautet die Devise, muß man etwas tun. Hauptsache, die Steuern werden gesenkt. Die Vorstellung, daß man dem Staat etwas gönnt, was die Kolleginnen und Kollegen ihm mit Erfolg - und dazu auch noch legal - verweigern, ist offenbar in jeder Hinsicht unerträglich. Dazu kommt, daß es immer Beispiele von Leuten gibt, die tatsächlich mit einem Abschreibungsprojekt ein ordentliches "Schnäppchen" gemacht haben. Es ist wie bei einer Spielbank, wo auch nicht zu leugnen ist, daß es Spieler gibt, die einen großen Gewinn gemacht haben. Trotzdem käme der homo oeconomicus niemals auf die Idee zu spielen, weil er weiß, daß die Gesamtheit der Spielerinnen und Spieler auf die Dauer nur verlieren kann.

Der Vergleich mit der Spielbank kann auch in anderer Hinsicht lehrreich sein. Mit der Schließung einer Spielbank wird den Leuten die Möglichkeit genommen, Verluste zu machen. Der Spieler aber, der bereits hoch verloren und sich entsprechend verschuldet hat, sieht sich dadurch der einzigen Möglichkeit beraubt, sich jemals wieder durch eine Glückssträhne zu sanieren. Mancher Zahnarzt, der sich für Abschreibungsprojekte hoch verschuldet hat, um auch den letzten Steuerpfennig zu sparen, und der dann zusätzlich noch  Verluste eingefahren hat, mag in weiteren Abschreibungsprojekten die einzige Chance sehen, überhaupt je wieder auf einen grünen Zweig zu kommen. In diesem Sinne wird nicht nur das Auslaufen des Sonderabschreibungsprogramms für Ostdeutschland von manchen Kreisen sehr bedauert; auch die mit der geplanten Steuerreform vorgesehene Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 40 oder weniger Prozent wird als Problem gesehen: Wenn allgemein weniger Steuern gezahlt werden müßten, dann lassen sich auch nicht mehr so viele Steuern sparen, und dann gerät manches Projekt noch nachträglich in die Verlustzone, so die - nur auf den ersten Blick absurd erscheinende - Logik (vgl. Finanztest März 1997, S. 64).

Und der Gesetzgeber?

Zu fragen wäre aber auch, warum der Staat es nicht lassen kann, Programme aufzulegen, die nicht nur die Finanzkraft des Staates entscheidend schwächen, sondern auch noch für eine gewaltige Fehlallokation von Ressourcen sorgen.

Nun ist zuerst einmal anzuerkennen, daß die prekäre Situation der Wohn- und Gewerbebauten und der allgemein spürbare Kapitalmangel auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nach der Wiedervereinigung Deutschlands ein Übel darstellten, gegen das die häufig beschworenen "Selbstheilungskräfte" des Marktes wenig hätten ausrichten können. In diesem Sinne hat der Gesetzgeber ganz richtig beschlossen, etwas für die Förderung von Investitionen in Ostdeutschland zu tun. Und wegen der Größe der Aufgabe war sicher auch nicht Kleckern angesagt, sondern Klotzen.

Statt nun aber die möglichen Privatinvestitionen durch geeignete Vorgaben gezielt in die Bereiche zu lenken, in denen eine Notsituation bestand, und ihren jeweiligen Umfang so zu bemessen, daß - bei knappen Ressourcen - nicht ein Überangebot an Wohn- und Gewerbeflächen entstehen mußte, vertraute der Gesetzgeber voll darauf, daß die Investoren, sprich: die Abschreibungsbranche mit ihren Investitonsfonds, am besten wüßten, was ihren Interessen diene und damit auch für eine effiziente Ressourcenallokation am nützlichsten sei. Diese unmittelbare Gleichsetzung gut organisierter privater Interessen mit dem Allgemeinwohl ist schon unter den Bedingungen eines gut funktionierenden freien Marktes nicht mehr als ein zum Dogma erhobener theoretischer Kunstgriff aus der Denkschule von Adam Smith. Im Falle eines durch massive Abschreibungsmöglichkeiten "künstlich hochgezüchteten" Marktes handelt es sich eher um einen Massenselbstbetrug von Gutgläubigen, der von der Abschreibungsbranche natürlich, wie das ihr gutes Recht ist, hemmungslos ausgebeutet wurde.

Es muß wenigstens erlaubt sein, auch hier die Frage zu stellen, ob in der Sache, um die es eigentlich geht, wirklich weniger erreicht worden wäre, wenn das Sonderabschreibungsprogramm einfach nicht stattgefunden hätte, wenn man es einfach gelassen hätte. Sicher scheint mindestens, daß bei zielorientierter Planung durch direkte Subventionen den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und sorgsamer Verwendung knapper Ressourcen wesentlich besser hätte gedient werden können als durch die Bereicherungs- und Verschwendungsmaschine eines Sonderabschreibungsprogramms.

Vom Lassen überhaupt

Das Sonderabschreibungsprogramm für Investitionen im ehemaligen Gebiet der DDR wurde hier als Beispiel gewählt, weil es in besonderer Weise erlaubt, sehr verschiedene Facetten des allgemeinen Problems zu beleuchten, das darin besteht, daß in der heutigen Welt der scheinbar unbeschränkten Machbarkeit die Frage nicht mehr erlaubt wird, ob nicht vielleicht unter den verschiedenen Formen des Tuns auch das simple Lassen als Möglichkeit geprüft werden sollte. Für die Altvorderen war das kein Problem. So dichtete beispielsweise der Thüringer Pastor Hartmann Schenck 1680 wie selbstverständlich:

"Unsern Ausgang segne Gott, unsern Eingang gleichermaßen,

segne unser täglich Brot, segne unser Tun und Lassen,

segne uns mit seligem Sterben und mach uns zu Himmelserben."

Und es mag auch gestattet sein, daran zu erinnern, daß in dem jüdisch-christlichen Vermächtnis der Zehn Gebote die Menschen achtmal dringlich aufgefordert werden, bestimmte Tätigkeiten zu unterlassen ("Du sollst nicht ..."), und daß die restlichen beiden Gebote, nämlich die Heiligung des Feiertags und die Ehrung von Mutter und Vater auch nicht gerade zu verstärkter Aktivität herausfordern.

Heute läßt sich zur Vermeidung von Übeln und zur Verbesserung der Welt (wie auch der eigenen Brieftasche) in allen politischen Lagern nichts anderes denken als Aktivität um jeden Preis. Als sich Günter Grass in der Zeit des Vietnamkrieges 1967 von den rebellierenden Studentinnen und Studenten aufgefordert wurde, irgendwas zu machen,

"Mach doch was. Mach doch was.

Irgendwas. Mach doch was.

Wir müssen irgendwas,

hilft doch nix, hilft doch nix,

wir müssen irgendwas,

mach doch was, machen."

da antwortete er in wahrscheinlich ehrlicher, aber damals zynisch erscheinender Weise mit einem Rezept für Schweinskopfsülze (Günter Grass, Irgendwas machen, in: Die Gedichte 1955-1986, S. 182ff.). Damit sollte gesagt werden, daß die Herstellung einer guten Schweinskopfsülze in der Sache, um die es damals ging, ebensoviel oder ebensowenig bewirkte wie die Unterschrift unter eine Protestresolution oder deren Abfassung. Die Alternative anzubieten, statt irgendwas gar nichts zu tun, konnte ihm nicht in den Sinn kommen.

"Macher" und "Versager" im Urteil der Geschichte

Der Vietnamkrieg selbst ist ein gutes Beispiel dafür, wohin man mit "Irgendwas machen" kommen kann. Die Geschichtsschreibung ist inzwischen ziemlich einig in ihrem Urteil darüber, daß es Präsident John F. Kennedy bei seinem Eingreifen in Südvietnam nicht um die Verteidigung ökonomischer Interessen der imperialistischen Weltmacht USA, sondern um die Durchsetzung demokratischer Strukturen gegen korrupte Cliquen in Südvietnam ging. Versucht man sich nun einmal vorzustellen, was passiert wäre, wenn die Intervention der USA in Vietnam unterblieben wäre, so läßt sich als - für die Vorstellungswelt der USA - schlimmste Alternative denken, daß ein korruptes und undemokratisches Südvietnam von Nordvietnam erobert worden wäre. Genau dieses Ergebnis wurde dann 1976 auch erreicht, allerdings erst nachdem ein grauenerregender Krieg unter der vietnamesischen Bevölkerung, aber auch unter den jungen Rekruten der US-Armee unendliche Opfer gefordert hatte.

Trotzdem hat die folgenschwere Einmischung der USA in Vietnam den Ruhm und Nachruhm der daran beteiligten US-Präsidenten nicht geschmälert. Im Gegenteil: Der einzige US-Präsident der letzten Zeit, der im Urteil der Öffentlichkeit als Versager gilt, ist der "Erdnußfarmer" Jimmy Carter. Er hat es fertiggebracht, während der vier Jahre seiner Amtszeit - bis auf das gescheiterte Unternehmen, mit ein paar Hubschraubern in letzter Minute 1980 noch die Geiseln aus der Teheraner US-Botschaft zu befreien - sonst überhaupt keine Soldaten zu Kampf­aufträgen ins Ausland zu senden. Und er hat weitsichtig alle Projekte mit Brutreaktoren in den USA gestoppt, weil sie ihm ganz richtig als zu teuer und zu gefährlich erschienen und weil er sie wegen der Risiken einer Weiterverbreitung waffentauglichen Plutoniums für nicht verantwortbar hielt. Schon wegen dieser beiden Unterlassungsentscheidungen müßte Jimmy Carter in die Ruhmeshalle derer gehören, die sich um ihr Land wirklich verdient gemacht haben. Im Urteil solcher "Macher" wie Bundeskanzler Helmut Schmidt war er gerade auch wegen dieser Unterlassungen ein schwacher Präsident, der füglich gegen einen Politiker wie Ronald Reagan auszuwechseln war, von dem man aktives Handeln erwarten durfte. Das Ergebnis war Reagans gigantisches Rüstungsprogramm, das die US-amerikanische Wirtschaft durch Rekorddefizite des Bundesetats und der Handelsbilanz an den Rand des Ruins treiben sollte.

Von der Intensität der Interessen

Die Manager und Angestellten der US-amerikanischen Rüstungsindustrie haben Präsident ReagansRüstungspolitik natürlich begeistert begrüßt und als Einsatz für die wahren Interessen der Nation gefeiert. Staatliche Investititons- und Förderungsprogramme sind nun einmal dadurch gekennzeichnet, daß sie bestimmte Sonderinteressen einzelner Gruppen der Gesellschaft begünstigen; und diese Gruppen, deren Macht gewöhnlich mit der Förderung noch zunimmt, entwickeln dann wegen der besonderen Intensität ihrer Interessen eine politische Tatkraft und einen Einfluß, mit dem die Vertretung des Interesses der Gesamtgesellschaft an einer Vermeidung zu kostspieliger und/oder zu riskanter Projekte kaum Schritt halten kann. Nur so ist beispielsweise zu erklären, warum ein so offenkundig unsinniges und riskantes Projekt wie der Schnelle Brüter in Kalkar sich politisch über so lange Zeit hat halten können.

Da der Staat angeblich nicht Bankrott machen kann, wird ihm zugemutet, über viele Jahre Milliarden und Abermilliarden in angebliche Zukunftsinvestitionen zu stecken, deren Rendite niemals eingefordert werden kann und deren Kosten deshalb zukünftige Generationen in der Form von Schuldzinsen zu zahlen haben. "Es liegt in der Natur der Sache", hat Ernst Forsthoff einmal geschrieben, "daß ein Interesse, je allgemeiner es ist, mit immer mehr Einzelinteressen unweigerlich in Widerspruch tritt und schließlich keinen organisierten gesellschaftlichen Patron mehr findet, der sich für die Realisierung einsetzt." (Der Staat in der Industriegesellschaft, München 1971, S. 25).

Ein besonders drastisches Beispiel für ein nach allen vorliegenden Berechnun­gen viel zu kostspieliges Projekt ist der Transrapid zwischen Hamburg und Berlin, dessen Bau gegen alle ökonomische Vernunft noch immer vorangetrieben wird. Hier kann es allerdings passieren, daß die Interessen einer ganzen Region für das Projekt ins Feld geführt werden: Mit der Belegschaft von Henschel bangt die Stadt Kassel um die Möglichkeit zum Bau des Transrapid, wie die Kumpel an Ruhr und Saar ganz Nordrhein-Westfalen und das Saarland zu Fürsprechern für die weitere Förderung des Steinkohlebergbaus oder die Rüstungsarbeiter in Seattle den Staat Washington zum Lobbyisten der Rüstungsindustrie gemacht haben. (Die Kalibergarbeiter von Bischofferode fragen sich allerdings heute, wenn sie von den Kosten der Steinkohleproduktion an der Ruhr und von der Höhe der Subventionen hören, warum ihre Kaliproduktion angeblich zu teuer gewesen sein soll. Wahrscheinlich lebten sie nur in der falschen Region beziehungsweise im falschen Bundesland.)

Der fromme Selbstbetrug

Einmal getätigte staatliche Investitionen oder Subventionen tauchen in der Regel danach in keiner Rechnung mehr auf. So kommt es, daß ganze Wirtschaftszweige als kostengünstig erscheinen können, obwohl sie die Gesellschaft früher oder später teuer zu stehen kommen. Es ist, als ob ein ökologisch durchaus bewußt lebender Mensch den Übergang von der Benutzung des Automobils zum öffentlichen Personennahverkehr mit der Begründung verweigert, daß ihm die Fahrpreise im Vergleich mit seinen Benzinkosten zu teuer sind. Erst wenn das Auto schrottreif ist und er ein neues kaufen müßte, wird er sich der Tatsache bewußt, daß er das Opfer eines frommen Selbstbetrugs geworden ist. Würden die von der Bundesregierung seit den fünfziger Jahren getragenen Kosten für Forschung und Entwicklung der Kernenergie auf ihren Preis umgeschlagen, so könnte sie niemals so vergleichsweise preiswert erscheinen, wie das heute der Fall ist. Und sehr teuer wäre sie, wenn die Privatunternehmen schon heute gezwungen wären, die zu erwartenden Folgekosten für eine heute noch immer ungesicherte Endlagerung in ihre Preiskalkulationen voll aufzunehmen.

Und doch gibt es einen Rest von Wahrheit im Selbstbetrug unseres Autofahrers: Hat er nämlich erst mal sein Auto für teures Geld gekauft, so könnte die teuerste Variante darin bestehen, das Auto in der Garage stehen zu lassen und immer mit der U-Bahn zu fahren. Die Kosten für den Autokauf werden nun plötzlich gewissermaßen anteilig auf den Preis für den einzelnen U-Bahn-Fahrschein draufgeschlagen. Übertragen auf unsere staatlichen Investitions- und Förderungsprogramme heißt das: Je mehr bereits investiert worden ist, je mehr Subventionen bereits geflossen sind, desto schwieriger wird eine ökonomische Rechtfertigung eines Ausstiegs aus einem Programm. "Wie kann man, nachdem schon so viele Milliarden in Kalkar geflossen sind, den Ausstieg aus der Technologie des Schnellen Brüters fordern?", hieß es jahrelang; und die Argumente in bezug auf die Kernenergie lauten nicht viel anders. Wo immer es möglich ist, helfen sich die interessierten Beteiligten auf privater und staatlicher Seite darüber hinaus untereinander, indem sie frühzeitig ein System von Ausfallbürgschaften errichten, die den Ausstieg noch einmal verteuern. Der Ausstieg aus einem noch so unsinnigen, teuren oder riskanten Projekt kann dann wesentlich teurer werden als seine Durchführung oder Beendigung. Gegen keinen Feind sichert sich die Lobby so argwöhnisch wie gegen das Lassen, das Aufhören, den Ausstieg.

Zur Hinnahme von Übeln

Der Alkoholmißbrauch ist mit Sicherheit eines der großen Übel der Menschheitsgeschichte. Wer einmal miterlebt hat, wie ein an sich gesunder Mensch durch ständigen Genuß von Alkohol im Übermaß allmählich vor die Hunde geht, der sagt sich gern , daß jedes Mittel recht sein müßte, um so etwas wirksam zu verhindern. Und doch zeigt die Geschichte der Prohibition in den USA zwischen 1919 und 1933, daß mit einer noch so großen Unterdrückungsmaschinerie der Sucht nicht wirksam begegnet werden kann. Weder die Zahl der Alkoholtoten, noch die der Süchtigen hat damals abgenommen; im Gegenteil hat der illegale Handel von billigem Branntwein, der mit Methylalkohol versetzt war, die Todesgefahr eher noch verstärkt. Was von der Prohibition im wesentlichen bewirkt wurde, war die Eröffnung eines großen Tätigkeitsfeldes für wachsende Verbrechersyndikate, deren Macht und Strukturen in der Mafia bis heute nachwirken. Die Prohibition erwies sich als zwar gutgemeint, aber unwirksam und im Endeffekt kontraproduktiv. Das hat nicht gehindert, daß die Kämpferinnen und Kämpfer gegen den "Teufel Alkohol" nach 1933 die Ursache für jeden Alkoholtoten in der Aufhebung der Prohibition ausgemacht haben.

In der heutigen sogenannten "Drogenszene", in der es um Kokain, Heroin und andere harte Drogen geht, sieht es im Kern kaum anders aus als in den USA zu Zeiten der Prohibition. Alles ist verboten, aber der Konsum steigt, die Zahl der Süchtigen nimmt zu, die Zahl der Toten geht mal rauf, mal runter, vor allem aber blüht der Schwarzhandel und die Beschaffungskriminalität. Im Unterschied zur Situation beim Alkohol sind die Toten bei den harten Drogen meist noch relativ jung, was die Wut über ihren Tod und seine Ursachen eher noch steigert. Allerdings bleibt die Zahl der Kokain- oder Heroin-Toten erheblich hinter der Zahl der Opfer von Alkohol oder auch Nikotin zurück.

Die Angehörigen der Drogenopfer und der sogenannte "Mann (oder auch die Frau) auf der Straße" können meistens nicht verstehen, daß es nicht möglich gewesen sein soll, das verbrecherische Treiben der Produzenten, Zwischenhändler und Kleindealer von Drogen wirksam zu unterdrücken. Dabei sind die meisten ernstzunehmenden Beobachterinnen und Beobachter der Szene bis hin zu vielen Polizeipräsidenten längst zu der Überzeugung gekommen, daß durch eine Legalisierung des Drogenkonsums - natürlich neben anderen Maßnahmen wie einem überzeugenden Therapie-Angebot - nicht nur die Zahl der Opfer gesenkt, sondern sogar ein Schlag gegen die illegalen Drogenhändlerringe und die Beschaffungskriminalität geführt werden könnte. Aber auch jetzt heißt die offizielle Devise noch immer: Was tun! Irgendwas machen! Und das heißt im Zweifelsfall immer: durch Unterdrückung bekämpfen und also in die Illegalität drängen, in der die Reinheit des Drogenstoffs nicht garantiert werden kann. Bevor die öffentliche Meinung nicht endgültig zu der Überzeugung gebracht worden ist, daß der von der Regierung der USA erklärte sogenannte "Drogenkrieg" gegen die Produzenten und Händler von Kokain und Heroin nicht gewinnbar ist, wird wahrscheinlich keine Drogenpolitik möglich sein, die das Übel eines kontrollierten Drogenkonsums zuläßt, um dem größeren Übel eines unkontrollierten Drogenkonsums und des im großen Maßstab organisierten Verbrechens zu begegnen.

Die falsche Gelassenheit oder das "Aussitzen"

Bei den Leserinnen und Lesern dieser Zeilen könnte der Eindruck aufkommen, daß hier dem Abwarten und Nichtstun schlechthin das Wort geredet würde. Nichts falscher als das: Natürlich ist eine ruhige und besonnene Gelassenheit, wie sie Lao-Tse nachgesagt wird, dem Vorhaben förderlich, neben verschiedenen Formen von Aktivität jeweils auch das Lassen als eine denkbare Möglichkeit produktiven Verhaltens in die Überlegungen einzubeziehen. Das ist aber vom Nichtstun um jeden Preis genauso weit entfernt wie von der vorherrschenden Ideologie der "Macher".

Die aktiv betriebene Einführung bestimmter Regelungen, die das Binnenverhältnis der Gesellschaft nachhaltig berühren, kann ungewollte, aber zwangsläufige Nebenwirkungen hervorrufen, die möglichst frühes aktives Handeln unabweisbar notwendig machen. Bei Zeitbomben dieser Art ist das Treibenlassen, Abwarten, "Aussitzen" unmittelbar einem kostspieligen und gefährlichen aktiven Handeln gleichzusetzen.

Eine solche Zeitbombe hat beispielsweise der Richter Jürgen Borchert ("Ren­ten vor dem Absturz. Ist der Sozialstaat am Ende?", Frankfurt am Main 1993) in dem Rentensystem ausgemacht, wie es sich seit der Einführung der "dynamischen Rente" im Jahr 1956 entwickelt hat. Erst mit dieser Reform nämlich (und nicht schon mit der Einführung der Altersrente durch Bismarck im Jahre 1889) wurden die Renten auf ein - dann auch noch steigendes - Niveau angehoben, das es erlaubte, von einer Ablösung des innerfamiliären "Generationenvertrags" durch einen gesellschaftlichen "Generationenvertrag" zu reden. Bis dahin nämlich waren die Renten so niedrig, daß die aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Alten bei fehlenden Ersparnissen unausweichlich auf die Unterstützung durch ihre noch wirtschaftlich aktiven eigenen Nachkommen angewiesen waren. Um ihre eigene Zukunft zu sichern, gab es für diese wiederum keinen anderen Weg als die Aufzucht eigener Nachkommen. Die Rentenreform von 1956 hat die damit verbundene Aufgabenteilung zwischen den Generationen grundsätzlich verändert, indem sie die Alterslasten sozialisiert hat, gleichzeitig aber die Lasten der Aufzucht von Kindern als Privatangelegenheit den Familien überlassen hat. Der Generationenvertrag erscheint seither als eine Angelegenheit, die nur zwischen den Generationen der Aktiven und der Alten auszuhandeln ist, während vorher die Generation der Kinder unbedingt dazugehörte.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis nach 1956 eine neue Generation den Aspekt der innerfamiliären Alterssicherung völlig aus dem Auge verlor und von der neuen Freiheit Gebrauch machen sollte, das Reproduktionsverhalten ganz nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Ab 1964 nahm die Geburtenrate dramatisch ab und sank bis 1986 auf die Hälfte, während die durchschnittliche Lebenserwartung im gleichen Zeitraum noch um etwa sechs Jahre stieg. Die materiellen Kosten und der Zeitaufwand für die Aufzucht der Kinder wurden von einem wachsenden Teil der jüngeren Generation als zu hoch empfunden; und da die Altersversorgung nun von staatlicher Seite ausreichend gesichert schien, blieben nun die Nachfahren aus, die für das dauerhafte und nachhaltige Funktionieren des Systems der Altersrenten auch in der nächsten Generation hätten sorgen können. Eine "Jugendrente", die als anderes Standbein das System auf Dauer hätte im Gleichgewicht halten können, war von Bundeskanzler Adenauer abgelehnt worden, weil der politische Taktiker erkannt hatte, daß das Stimmrecht der wachsenden Gruppe der Alten von großem Nutzen sein konnte, während die Kinder kein Stimmrecht hatten.

Ein solches System weitgehend sich selbst zu überlassen, wie das jahrelang geschehen ist, konnte im Grunde nichts anderes bedeuten, als daß die wachsende Gruppe der Rentnerinnen und Rentner und die - auch wegen der Arbeitslosigkeit - kleiner werdende Gruppe der Aktiven in einen Grabenkrieg der Generationen um den Ausgleich der Finanzierungslücke geschickt werden.

Die ethische Dimension des Lassens

In bestimmten Situationen mag also aktives Handeln unbedingt erforderlich sein, um früher gelegte Zeitbomben zu entschärfen. Weit weniger entwickelt als die Bereitschaft zur Aktivität ist allerdings die Zivilcourage, die dazugehört, im rechten Augenblick nicht mitzumachen, den Gehorsam auf verbrecherische Befehle zu verweigern. Bekannt sind die Versuchsanordnungen des Sozialpsychologen Stanley Milgram (Das Milgram-Experiment, Reinbek 1974), der 1962 in Yale unter Laborbedingungen willkürlich ausgewählte Versuchspersonen dazu genötigt hat, im Rahmen eines angeblichen "Lernversuchs" unsichtbare, aber laut schreiende Menschen mit Stromstößen von bis zu 450 Volt zu quälen. Dieser Versuch und mehrere Wiederholungen in den USA und in Deutschland haben jeweils ergeben, daß nur eine kleine Minderheit der Versuchspersonen jeweils darauf gekommen ist, den als "wissenschaftlich" vorgestellten Versuch von sich aus vor dem (gespielten) Zusammenbruch der "bestraften" Opfer abzubrechen. Es muß sich bei dieser Minderheit um Menschen handeln, denen das Lassen als Alternative zum Tun und zum Mitmachen überhaupt als Möglichkeit präsent war.

Der Wissenschaft wächst in dieser Hinsicht eine enorme Verantwortung zu. Homosexuelle haben beispielsweise darauf aufmerksam gemacht, daß bisher alle noch so gut gemeinten (und bisher alle erfolglosen) Beiträge zur Erforschung der Ursachen von Homosexualität von interessierten Kreisen auf die Möglichkeiten der Verhinderung und Ausmerzung der Homosexualität abgeklopft worden sind und ihnen auf diese Weise ein unhinterfragtes Ausleben ihrer Veranlagung unmöglich gemacht wurde. Könnte man diesen Forschungszweig nicht einfach aufgeben?

Lange Zeit galt die Erforschung eineiiger Zwillinge als die einfachste und sicherste Methode, den Einfluß ererbter Anlagen gegenüber den erworbenen möglichst genau abzugrenzen. Der junge Mediziner Josef Mengele konnte deshalb nach einem Gutachten des Professors Sauerbruch auf die Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft rechnen, als er während des Zweiten Weltkrieges nach Auschwitz aufbrach, um dort als KZ-Arzt seine grausamen Experimente an Zwillingskindern durchzuführen. Das Interesse an dieser dem Machbarkeitswahn geschuldeten Fragestellung nach der Bedeutung der Erbinformation hat seither nicht nachgelassen. So hat der Entwicklungsbiologe Davor Solter von der Max-Planck-Gesellschaft, nach der Möglichkeit des Klonens von Menschen befragt, 1996 erklärt: "Wenn wir verbieten würden, menschliche embryonale Stammzellen zu manipulieren, dann würden wir zugeben, daß wir schwach und blöd sind." (Süddeutsche Zeitung vom 25. Februar 1997). Was technisch möglich ist, muß offenbar um jeden Preis auch gemacht werden können.

Das Lassen wird unvermeidlich

Wer verfolgt, wie in den zweihundert Jahren des um sich greifenden Kults der Machbarkeit seit der Industriellen Revolution die materielle Produktion gewachsen ist, wie sich die Einkommensunterschiede zwischen den Reichsten der reichen Länder und den Ärmsten der armen Länder um ein Vielfaches vergrößert haben, wie die Ressourcen des Planeten mit steigendem Tempo ausgebeutet wurden, wie dadurch die natürlichen Umweltbedingungen in verheerendem Maße zerstört wurden, der kann leicht ausrechnen, daß die Weiterverfolgung dieses Entwicklungspfades nicht unbegrenzt möglich ist. Irgendwann werden die Kosten und Risiken des Weitermachens der "Macher" so groß sein, daß das Lassen aus einer verdrängten Möglichkeit zu einer gesellschaftlichen Tugend wird, um deren Hochachtung die Menschen miteinander konkurrieren werden. Zuerst geschieht das Lassen gegen großen Widerstand wie etwa beim Schnellen Brüter in Kalkar oder wie vielleicht demnächst beim Transrapid. Dann wird es sich ausbreiten und Kraft gewinnen und im Denken der Menschen immer stärker präsent sein, zuerst als Denkmöglichkeit und dann als praktische Alternative.

Wie bei jeder zukunftsträchtigen Strömung ist es nie verkehrt, frühzeitig auf der richtigen Seite zu stehen. Es gibt eine Branche, die schon auf diesem Weg ist, weil sie sich wie niemand sonst mit Kosten und Risiken auskennt: die Rückversicherungen, die ihrerseits die Versicherungen gegen Katastrophen versichern. Die Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft AG, die weltgrößte Versicherung für Versicherungen hat festgestellt, daß sich die Zahl der Naturkatastrophen seit den sechziger Jahren verfünffacht hat, der dadurch entstandene Schaden für die Volkswirtschaften (inflationsbereinigt) auf das Achtfache, nämlich 60 Milliarden US-Dollar gestiegen ist und der Schaden für die Versicherungen sogar auf das Fünfzehnfache. Ein Hauptgrund sei, so zitiert die Süddeutsche Zeitung vom 27. Dezember 1996, "die immer stärkere Konzentration von Bevölkerung und Werten in immer mehr und größeren Städten, die häufig in Risikozonen liegen". Und nun kommt es: "Zudem wirken sich immer deutlicher die Veränderungen in Umwelt und Klima in vielen Regionen der Erde aus. Die Münchener Rück plädiert seit etlichen Jahren für Maßnahmen zur Eindämmung der vom Menschen verursachten Umweltveränderungen."

Wenn das kein deutliches Plädoyer für das Lassen ist! Der Welt größter Rückversicherungskonzern wird seine Beiträge erhöhen müssen, um der Vernunft nachzuhelfen, und dann werden die von ihm versicherten Versicherungen ebenfalls ihre Beiträge erhöhen. Noch besser wäre allerdings, die Vernunft setzte sich schon vorher durch und die Menschen ließen allen Unsinn. Zu ihrem eigenen Nutzen.