Theorie und Praxis des Neoliberalismus

Referat bei der Neoliberalismus-Tagung der ADLAF
und der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg

Urs Müller-Plantenberg

Der folgende Beitrag soll zunächst einmal zur Klärung der Frage beitragen, womit wir es eigentlich beim Neoliberalismus in Lateinamerika zu tun haben. Es soll deutlich werden, wann man überhaupt von Neoliberalismus sprechen kann und darf und wofür er verantwortlich gemacht werden kann bzw. was ihm angekreidet oder gutgeschrieben werden kann. Die politische Stellungnahme, die diese politi­sche Strömung zwangsläufig herausfordert, soll vorerst in den Hintergrund treten. (Häufig wird der Neoliberalismus mit Worten angegriffen und in der Sache ver­teidigt. Bisweilen ist es auch umgekehrt.)

Ausgangspunkt der Betrachtung ist das Credo der neoliberalen Doktrin, wonach es das Ziel aller gesellschaftlichen Organisation sein muß, für eine opti­male, das soll heißen: möglichst effiziente Allokation der in dieser Welt knappen Ressourcen zu sorgen. Benutzt man dann, wie die Neoliberalen es mit ihrem kon­sequenten methodologischen Individualismus tun, zur Bestimmung des Optimums das Pareto-Kriterium - eine Veränderung oder Handlung ist nur dann eindeutig gut, wenn durch sie die Lage wenigstens einer Person verbessert wird, ohne daß die Lage auch nur einer anderen Person verschlechtert wird, wobei alle beteiligten Personen selbst darüber entscheiden, was für sie eine Verbesserung oder Ver­schlechterung ihrer Lage bedeutet -, dann stellen - und das ist geradezu tautolo­gisch - zumindest kurzfristig nur Kaufs- und Verkaufshandlungen zwischen auf ihren Eigennutz bedachten Individuen auf einem freien Markt optimale Verände­rungen und damit einen Beitrag zu einer effizienten Ressourcenallokation dar.

Umgekehrt heißt das nach dem neoliberalen Credo, daß jeder Eingriff von außen in das freie Marktgeschehen - sei es von seiten des Staates, sei es von sei­ten mächtiger Monopole - auf eine ineffiziente Allokation von gesellschaftlichen und natürlichen Ressourcen und damit auf eine Verschleuderung und Verschwen­dung knapper Mittel hinausläuft, mag die dahinterstehende Absicht noch so gut­gemeint sein.

Weil es um das Wohl jedes Einzelnen - auch des Bestgestellten - geht, bedeu­ten solche Eingriffe nach dieser Doktrin außerdem notwendig Diskriminierungen, die nach dem neoliberalen formalen Gerechtigkeitsprinzip unbedingter Chancen­gleichheit nicht zugelassen sein dürften.

Eine Gesellschaft, die allein nach diesen Kriterien eines liberalen Fundamenta­lismus gestaltet wäre und dem Staat allenfalls die Rolle eines Nachtwächterstaats zugestehen würde, wäre mit der Bezeichnung Manchesterkapitalismus wohl ganz richtig beschrieben. Dabei bestimmen unsere politischen Interessen darüber, ob wir eine solche Gesellschaft als brutale Ellenbogengesellschaft brandmarken oder als eine freie Gesellschaft freier Bürger bejubeln würden.

Nun ist der Neoliberalismus aber keine Angelegenheit des 18. oder 19. Jahr­hunderts, sondern eine geschichtsmächtige Strömung am Ende des 20. Jahrhun­derts. Worin besteht nun das Neue am Neoliberalismus? Ganz sicher nicht darin, daß er sich von dem alten liberalen Credo abgrenzen würde. Das Neue besteht vielmehr darin, daß der Neoliberalismus am Ende des 20. Jahrhunderts auf Gesellschaften stößt, die mit weitreichender staatlicher Wirtschaftstätigkeit, star­ker Regulierung privater Aktivitäten, Protektionismus, selektiver Subventionie­rung bestimmter Wirtschaftssektoren, Bildung von Monopolen und Oligopolen und Aufkommen großer staatlicher und halbstaatlicher Bürokratien zur Verwal­tung des Bildungssystems, des Gesundheitswesens, der Sozialversicherung und der Sozialfürsorge eindeutig gegen alte liberale Prinzipien verstoßen.

Die Aufgabe, der sich die neoliberalen Theoretiker und Praktiker verschreiben, kann deshalb nicht die Verteidigung einer gegebenen liberalen Gesellschaftsord­nung sein. Sie sehen ihre Aufgabe vielmehr zunächst und zuallererst in einem Zerstörungswerk, nämlich im konsequenten Abbau aller staatlichen Aktivitäten, die die Freiheit des Marktes beschränken oder in den freien Lauf der Wirtschaft eingreifen. Man kann dieses Zerstörungswerk die systematische Desorganisation des organisierten Kapitalismus nennen; gewöhnlich werden dafür so wohlklin­gende Begriffe wie »Strukturanpassung« oder englisch »Restructuring« benutzt. In Chile sind die Chicago Boys angesichts des sehr gründlichen Charakters dieser Umwälzung nicht vor dem Gebrauch des Begriffes »Revolution« zurückge­schreckt, und Milton Friedman war immer ehrlich genug, um direkt von einer »Konterrevolution« zu sprechen.

Dieses neoliberale Zerstörungswerk ist auf alle Fälle strikt zu unterscheiden von einer Politik innerhalb einer nach neoliberalen Prinzipien funktionierenden Gesellschaft. Im neoliberalen Sprachgebrauch entspricht diesem Unterschied der Unterschied zwischen Ordnungspolitik auf der einen und Tages- oder Wirt­schaftspolitik auf der anderen Seite. Beide unter der gleichen Rubrik »neoliberale Wirtschafts- oder Wachstumsstrategie« zu verbuchen, führt geradezu notwendig zu Irrtümern, und zwar sowohl bei Verteidigern wie bei Kritikern des Neolibera­lismus.

Um das deutlich zu machen, akzeptieren wir zunächst einmal die Begriffe der Effizienz und der Diskriminierung, wie sie von den neoliberalen Theoretikern und Praktikern definiert und benutzt werden. Danach wäre eine Transaktion dann am effizientesten, wenn es keine andere Transaktion gibt, bei der das Verhältnis zwi­schen den eingesetzten knappen Ressourcen und dem erzielten Nutzen günstiger ist. Da auf dem freien Markt vorausgesetzt werden kann, daß sich Käufer und Verkäufer nur dann auf ihre Transaktion einigen, wenn für beide der erzielbare Nutzen im günstigsten Verhältnis zu ihren knappen Ressourcen steht. sind wir wieder bei dem Credo, daß einzig der freie Markt für die effizienteste Ressour­cenallokation sorgt.

Diskriminierung ergibt sich nach neoliberalem Verständnis dann, wenn in den freien Markt eingegriffen wird und Menschen oder Gruppen daran gehindert wer­den, mit ihren knappen Ressourcen den Nutzen zu erzielen, den sie ohne diese Eingriffe - des Staates oder mächtiger Monopole oder beispielsweise der Mono­polmacht der Gewerkschaften - erzielen könnten. In diesem Sinne versteht sich der Neoliberalismus auch als klassenneutral oder gewissermaßen über den Klas­sen und ihrem Kampf stehend.

In einer nach neoliberalen Prinzipien funktionierenden Gesellschaft wäre alles wirtschaftliche Handeln nach diesem definitorischen Selbstverständnis automa­tisch effizient. Und außerdem wäre in dieser Gesellschaft jede Diskriminierung - auch das ist tautologisch - ausgeschlossen. Insofern Korruption als Abzweigung öffentlicher Mittel für private Zwecke verstanden wird, müßte die Minimierung staatlicher Interventionen auch als effizientes Mittel zur Vermeidung von Korrup­tion wirken. Die Theoretiker und Praktiker des Neoliberalismus verstehen sich daher nicht nur als grimmige Feinde jeder Art von Staatsinterventionismus, son­dern gerade als solche auch als Vorkämpfer für äußerste Effizienz, gegen jegliche Art von Diskriminierung und gegen Korruption überhaupt. Sie nehmen dafür gern in Kauf, daß sich in diesem Kontext soziale Gerechtigkeit auf bloße formale Chancengleichheit reduziert.

Die real existierende Gesellschaft, auf deren Strukturanpassung sich die Neo­liberalen kaprizieren, ist aber gerade durch vielfache staatliche Intervention gekennzeichnet. Um das geplante Zerstörungswerk zu vollbringen, müssen die neoliberalen Ordnungspolitiker ihrerseits zu sehr durchgreifenden Interventionen des Staates greifen. Es ist wie mit dem Selbstmord, der sich auch ohne eine gehörige Portion Tatkraft und Entschlossenheit nicht bewerkstelligen läßt. Aber nicht nur das: Indem die neoliberalen Strukturanpasser hart eingreifen, gehen sie - zumindest zeitweilig - das Risiko starker Diskriminierung und äußerster Ineffi­zienz ein. Um das zu zeigen, soll hier kurz auf die wichtigsten Bestandteile der Strukturanpassungsprogramme eingegangen werden.

Die Liberalisierung aller Preise bedeutet zwangsläufig eine - je nach dem vor­her erreichten Grad der Preiskontrolle - mehr oder weniger starke Veränderung der Preisstruktur und damit eine Begünstigung eines Teils der Anbieter und Nach­frager und eine Schädigung der Interessen eines anderen Teils, der nur auf der Basis der bisherigen Preisstruktur vorteilhaft produzieren oder verkaufen konnte. Diese zweite Gruppe muß sich auch nach neoliberalen Gesichtspunkten als dis­kriminiert vorkommen, weil sie sich aus freien Stücken nie auf diese staatlich verordnete Veränderung der Preisstruktur durch Liberalisierung eingelassen hätte. Da die Investitionsentscheidungen bisher auf der alten Preisstruktur beruhten, erweisen sich jetzt viele Investitionen als nachträglich falsch. Teile der bisherigen Produktion lohnen nicht mehr, das investierte Kapital wird entwertet, die knappen Ressourcen werden bewußt verschleudert, kurz, die Effizienz der Gesamtwirt­schaft wird vermindert. In der Regel bedeutet das auch einen Rückgang der Pro­duktion überhaupt, einen Rückgang, der als Ergebnis einer Schockpolitik drama­tische Formen annehmen kann.

Der Versuch, behutsam vorzugehen und die Kapitalvernichtung dadurch zu verringern oder zu verzögern, daß die Preise nicht alle auf einmal, sondern gestaf­felt freigegeben werden, läuft sogar auf eine bewußte und gezielte Diskriminie­rung hinaus, wiederum positiv für die einen, negativ für die anderen. Der Korrup­tion und dem von den Neoliberalen so verachteten Klientelismus sind dabei Tür und Tor geöffnet. Den letzten Anschein von Klassenneutralität verliert eine solche Politik dann, wenn sie bewußt den Preis der Ware Arbeitskraft länger als die anderen Preise kontrolliert niedrig hält.

Für die anderen wesentlichen Punkte der Strukturanpassungsprogramme läßt sich dieses Dilemma des Neoliberalismus sogar noch unmittelbarer zeigen. Das gilt beispielsweise für die Öffnung zum Weltmarkt durch die Senkung der Außenzölle, die die Kosten-Nutzen-Berechnungen der produzierenden Betriebe völlig über den Haufen wirft und dementsprechend zur massiven Kapitalvernich­tung mit entsprechender Steigerung der Arbeitslosigkeit führt. Hier zeigt sich übrigens, daß die neoliberale Ordnungspolitik keineswegs im unmittelbaren Inter­esse der multinationalen Konzerne liegen muß. In vielen Fällen haben die Struk­turanpassungen trotz aller Investitionsanreize zu einer massiven Entwertung aus­ländischer Direktinvestitionen und damit zu einem Nettoabfluß von Auslands­kapital geführt, weil die Produktion im betreffenden Lande nun nicht mehr lohnte. (Die großen multinationalen Konzerne, die in São Paulo ansässig sind, haben übrigens die kürzlich erfolgte Steigerung der brasilianischen Außenzölle für bestimmte Industrieprodukte ausdrücklich begrüßt.)

Bei den Privatisierungen staatlicher Unternehmen liegt auf der Hand, daß die normalen Bedingungen, die auf einem freien Markt Effizienz garantieren könnten, um so weniger gegeben sind, je schneller und umfassender die Privatisierung erfolgt. Hier stößt in der Regel ein sehr breites Angebot auf eine sehr schwache Nachfrage. Um überhaupt schnell etwas abstoßen zu können, wird staatliches Eigentum praktisch verschleudert. Der Korruption sind an dieser Stelle wieder sämtliche Schleusen geöffnet; aber auch ohne Korruption ergibt sich eine starke Diskriminierung zugunsten derer, die die bisher staatlichen Unternehmen mit sehr geringem Kapitalaufwand übernehmen können. Von gesamtwirtschaftlicher Effi­zienz auch hier kurzfristig keine Spur. (Bei den Präsidentenwahlen in Guatemala in diesem Monat haben alle achtzehn Kandidaten praktisch das gleiche neolibe­rale Strukturanpassungsprogramm vorgelegt; gleichzeitig haben alle achtzehn Kandidaten ausdrücklich eine Privatisierung der Staatsunternehmen mit der Begründung abgelehnt, daß eine solche Privatisierung in Guatemala ohne Kor­ruptionsexzesse nicht zu haben sei.)

Schließlich verlangt das neoliberale Programm einen beschleunigten Abbau der Ausgaben des Staatshaushalts, was in der Regel nicht durch Senkung der Rüstungsausgaben geschieht, die schon bei Adam Smith sakrosankt waren, son­dern durch Abbau von Produktionssubventionen und vor allem durch eine mas­sive Senkung der Ausgaben für soziale Zwecke. Auch dieser Teil des neolibera­len Programms läßt sich natürlich nicht ohne massive Diskriminierung eines großen Teils der Bevölkerung bewerkstelligen.

Ein weiteres Einfallstor für politische Willkür und Klientelismus ist die Sequenz der einzelnen Teile des Programms. Werden alle Teile gleichzeitig als Schockpolitik durchgeführt, sind die Folgen in Gestalt von Produktionsrückgang, steigender Arbeitslosigkeit und wachsendem Massenelend dramatisch, und von Effizienz kann, egal nach welchem Kriterium keine Rede sein. Folgen die Pro­grammteile aber aufeinander, so ist es eine von der politischen Kräftekorrelation abhängige Frage, in welcher Reihenfolge das geschieht. Ob erst der Sozialabbau und dann die Zollsenkung geschieht oder umgekehrt, entscheidet darüber, welche soziale Gruppe positiv oder negativ diskriminiert wird.

Die neoliberalen Theoretiker und Praktiker pflegen über das hier geschilderte Dilemma einer Politik, die im Namen von gesteigerter Effizienz und im Kampf gegen Diskriminierung und Korruption auftritt und zunächst nichts anderes bewirkt als Verschleuderung von investiertem Kapital, vielfache Diskriminierung und massive Korruption, mit dem Hinweis hinwegzugehen, daß es sich um eine Erblast der bisherigen Politik handle, deren Beseitigung eben ihre Kosten ver­lange.

Häufig genug nehmen die neoliberalen Praktiker diese Kosten aber auch gar nicht wahr und reden und handeln mitten im Transformationsprozeß so, als ob das neoliberale Paradies, in dem Korruption gar nicht mehr möglich sein dürfte, schon erreicht sei. So hat beispielsweise um 1980 der damalige Zentralbankpräsi­dent von Chile, ein doktrinärer Chicago Boy, das allgemeine Publikum mit genauen Auskünften über seine spekulativen Privatgeschäfte versorgt und um Nachahmung gebeten, um nachzuweisen, wie unabhängig der Geld- und Finanz­markt bereits von jeglichem staatlichen Eingriff sei.

Die Unterschlagung der Kosten des Transformationsprozesses oder der Struk­turanpassung ist in der Sache genau so falsch wie auf der anderen Seite die Iden­tifikation des neoliberalen Projekts mit diesen Kosten. Unter dem Eindruck der schweren Krise des verlorenen Jahrzehnts der achtziger Jahre haben viele Kritiker gemeint, daß die Aufrechterhaltung der ordnungspolitischen Prinzipien des Neo­liberalismus notwendig Produktionsrückgang, fortgesetzte regressive Umvertei­lung des gesellschaftlichen Reichtums, dauerhafte Diskriminierung breiter Schich­ten und massive Korruption bedeuten müßte. Seit sich in Chile, dann aber auch in Argentinien und Peru und anderen Ländern, zeitweilig sogar in Mexiko der Trend umkehrte und die Produktion für Export und Binnenmarkt wieder mehr oder weniger deutlich wuchs, galt das dann als Zeichen dafür, daß eine Abkehr vom neoliberalen Modell erfolgt sei.

Von einer solchen Abkehr kann in den meisten Fällen gar keine Rede sein. Im Gegenteil handelt es sich bei dem Aufschwung um eine Rekonstruktionsperiode auf der Basis dessen, was als Ergebnis des neoliberalen Zerstörungswerks noch übriggeblieben war, jetzt aber unter den Bedingungen scharfer Konkurrenz, die keine ineffizienten Anbieter von Produkten oder Arbeitskraft auf dem Markt überleben läßt.

Es ist noch keineswegs ausgemacht, ob der Aufschwung der Ökonomien der einzelnen lateinamerikanischen Länder über eine Rekuperation der Verluste aus den achtziger Jahren hinausgeht und eines Tages ein Niveau erreicht, das dem entspricht, das mit einer Weiterführung der Wachstumsraten aus den sechziger und den frühen siebziger Jahren erreicht worden wäre. Viel hängt hier auch davon ab, ob die Industrieländer auf dem Weltmarkt den freien Zugang gewähren, der Voraussetzung für die Wirkung der neoliberalen Spielregeln ist. In jedem Fall kann nicht erwartet werden, daß die stark regressive Umverteilung von Vermögen und Einkommen, wie sie die Strukturanpassungen hervorgebracht haben, unter den nun geschaffenen Bedingungen auch nur annähernd rückgängig gemacht wer­den kann. Für große Teile der Bevölkerung - und gerade die ärmeren Schichten - wird es also auch bei hohem Wachstum noch erheblich länger dauern, bis sie wieder dort anlangen, wo sie vor dem neoliberalen Zerstörungswerk einmal waren. Wenn dieser Zeitpunkt überhaupt noch einmal kommt. Die erzwungene Isolierung und Entsolidarisierung der Arbeitskräfte bei starker Konkurrenz um Arbeitsplätze, die immer häufiger prekär und informell werden, leistet einen wesentlichen Beitrag zur Verfestigung der Einkommensverteilung auf dem jetzt erreichten niedrigen Niveau.

Wesentlich für das Ausmaß, die Sequenz und die Geschwindigkeit der Durch­setzung neoliberaler Prinzipien sind natürlich die politischen Rahmenbedingun­gen, unter denen der Transformationsprozeß durchgeführt wurde. Hier ist zu unterscheiden zwischen den erzwungenen Strukturanpassungen, zu denen vom Internationalen Währungsfonds und von der Weltbank angesichts von Auslands­verschuldung, Haushalts- und Zahlungsbilanzdefiziten und starker bis galoppie­render Inflation keine Alternative mehr gelassen wurde, und »freiwilligen« Trans­formationsprozessen, die teils in vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem Inter­nationalen Währungsfonds, teils in ideologischem Gleichklang mit ihm eingeleitet wurden. Es ist nicht zufällig, daß diese »freiwilligen« Prozesse zunächst nur unter dem Schirm eiserner Militärdiktaturen stattgefunden haben und daß das konse­quenteste Beispiel einer rein von der Doktrin bestimmten neoliberalen Revolution in Chile stattfand, wo die Militärs die neoliberalen Ökonomen um de Castro gegenüber jeder politischen Einflußnahme gesellschaftlicher Gruppen lückenlos abschirmten, weil sonst das Zerstörungswerk nicht hätte gelingen können. Vegh Villegas in Uruguay und Martínez de Hoz in Argentinien waren um die Mitte der siebziger Jahre von den Militärs ihrer Länder nicht nur weniger gegen wichtige Interessengruppen geschützt, sondern teilweise mit diesen sehr direkt verbunden, so daß der Transformationsprozeß nicht mit der gleichen Konsequenz vorange­trieben wurde wie in Chile.

Die erzwungenen Strukturanpassungen stellen die große Mehrheit der Fälle in Lateinamerika dar. Dabei ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß auch in diesen Fällen Leute an die Schalthebel der Macht kommen, die die Umgestaltung im neoliberalen Sinne mit doktrinärer Konsequenz betreiben. Sie haben dabei sogar die Chance, sich in mehr oder weniger demokratischen Wahlen durchzusetzen, wenn sie es verstehen, die Strukturanpassung gegenüber dem herrschenden Desaster als einzige noch mögliche Lösung anzubieten. Einen Sonderfall erzwun­gener Strukturanpassung stellen die Fälle von Argentiniens Präsident Menem und Perus Präsident Fujimori dar, weil sie das neoliberale Zerstörungswerk in Angriff genommen haben, nachdem sie in einer Art organisierten Wählerbetrugs verspro­chen hatten, es zu verhindern.

Es ist kein Wunder, daß Korruption, Klientelismus, politische Willkür und ökonomische Diskriminierung dort eine größere Überlebenschance haben, wo Strukturanpassungen von außen erzwungen sind und ihre Sequenzen immer neu ausgehandelt werden.

Das Zerstörungswerk der Strukturanpassung richtet sich natürlich zuerst auf die Bereiche, in denen der freie Markt seine unmittelbare Wirkung entfalten kann. Darüber wird häufig übersehen, daß natürlich auch die neoliberalen Theoretiker bestimmte Sphären kennen, in denen vom Markt allein eine optimale Ressour­cenallokation nicht gewährleistet werden kann.

Erstens bedarf es einer allgemeinen Garantie für den Markt, wie sie nur ein starker - aber schlanker - Staat mit fähigen Polizisten und Steuereintreibern - seien diese auch privat - zu leisten vermag.

Zweitens würde der freie Markt allein - wegen des beschränkten Zeithorizonts - nicht für eine »optimale Akkumulation von Humankapital« sorgen, so daß der Staat dieses Defizit durch geeignete Organisation des Bildungssystems beheben muß.

Drittens gilt Entsprechendes für das Gesundheitswesen.

Viertens verschließen sich die neoliberalen Theoretiker auch nicht prinzipiell vor dem Argument, daß der freie Markt allein noch nicht den auf Dauer nötigen Umweltschutz sichert.

Und fünftens halten sie zur Armutsbekämpfung die Sicherung eines Existenz­minimums - sei es durch staatlichen Zuschuß oder durch eine Negativsteuer - im Prinzip für erlaubt.

Wer also glaubt, daß Bildungs-, Gesundheits-, Umwelt- oder Sozialpolitik an sich schon Abweichungen vom Pfad der neoliberalen Tugend darstellen, der hat sich gründlich geirrt. Allerdings stehen diese Politiken für die Neoliberalen erst dann wirklich auf der Tagesordnung, wenn die eigentlichen »ordnungspoli­tischen« Aufgaben erfüllt sind. Außerdem wird der Umfang bildungs-, gesund­heits-, umwelt- und besonders sozialpolitischer Anstrengungen den Neoliberalen wahrscheinlich immer mühsam abgerungen werden müssen. Und schließlich sind nach dem neoliberalen Credo auch hier nur Mittel erlaubt, die der effizienten Ressourcenallokation dienlich sind und sie nicht stören. Das heißt beispiels­weise, daß es möglich sein muß, Bildungs- und Gesundheitsgutscheine ebenso zu handeln wie Umweltverschmutzungsrechte, und daß einziges Kriterium für die Gewährung von Sozialfürsorge die Armut der Betroffenen und nicht ihre Zuge­hörigkeit zu irgendeiner gesellschaftlichen Gruppe ist.

Bei der CEPAL, der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik, ist diese Denkweise längst die herrschende geworden, wie sich an ihren Schriften über Produktionsumbau und sozialen Aus­gleich ablesen läßt. Und auch wenn in diesen Schriften einer selektiven Unter­stützung des Staates für bestimmte Wirtschaftszweige zur besseren Eingliederung in den Weltmarkt das Wort geredet wird, bestimmen doch einzig und allein die Tendenzen des Weltmarktes über die vorzunehmende Selektion.

So eindeutig die Vorherrschaft neoliberaler Theorie und Praxis heute in Latein­amerika ist - und sie ist viel eindeutiger als beispielsweise in Westeuropa -, so wenig muß das bedeuten, daß es innerhalb des gesetzten Rahmens keinerlei poli­tische Alternativen gibt. Über den Umfang und die inhaltliche Gestaltung der Politik auf den Gebieten der Bildung und der Gesundheit, des Umweltschutzes und der sozialen Gerechtigkeit werden noch viele Auseinandersetzungen stattfin­den. Wenn Kuba es schaffen sollte, seine Errungenschaften auf einigen dieser Gebiete wenigstens teilweise über die gegenwärtigen Wirtschaftsreformen hin­wegzuretten, wäre das ein Ansporn für viele Menschen in anderen Ländern Lateinamerikas.