Umwege in der deutschen Literatur
von Lessing über Goethe bis Kafka

Urs Müller-Plantenberg

Wissenschaften entfernen sich im ganzen immer vom Leben und kehren nur durch einen Umweg wieder dahin zurück.

Johann Wolfgang Goethe 1807[1]

Vorbemerkung

Die von den Herausgebern dieses Bandes gestellte Aufgabe, über Umwege Auskunft zu geben, und die von ihnen gewährte Freiheit, dabei einen weit gefächerten Bereich wissenschaftlicher Disziplinen samt ihrer interdisziplinären Überschneidungen zu streifen, hat den Verfasser dieser Abhandlung hart getroffen. Ganz offenbar steckt ja dahinter die Vorstellung, daß Umwege in der Wissenschaft nicht selten, ja vielleicht sogar häufig erkenntnisfördernd sein können und daß es sich deshalb lohnen müsse, sich mit ihnen systematisch auseinanderzusetzen. Metaphorisch wird hier der Umleitung der Bewegung der Gedanken ein positiver Wert unterstellt, weil sie - gewollt oder ungewollt - zu neuer Erkenntnis führt.

Nun hat sich ergeben, daß der Verfasser in seinen eigenen Schriften lediglich an einer einzigen Stelle das Wort »Umweg« verwendet hat, und das zwar in metaphorischer, aber keineswegs euphorischer Weise.[2]

Das nur einmalige Vorkommen des Begriffs »Umweg« in den eigenen Schriften ließ den Verfasser nun auf die Idee kommen, doch einmal systematisch zu erforschen, wo und wie denn überhaupt dieser Begriff in der deutschen Literatur verwendet worden ist, um daraus zu ersehen, ob das Anliegen der Herausgeber sich auf wichtige Traditionen der Geistesgeschichte zu berufen vermag. Aus Gründen, die nicht nur, aber auch praktischer Natur sind, wurde der Unter­suchungsgegenstand auf die deutsche Literatur zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und dem Beginn des Ersten Weltkriegs eingeschränkt, also auf die literarischen Produkte aller Gattungen, die von den Romanen Christian Fürchtegott Gellerts und den Abhandlungen Johann Joachim Winckelmanns bis zur Lyrik Rainer Maria Rilkes und zur Prosa Franz Kafkas reichen.

Die Anfänge

Gotthold Ephraim Lessing ist hier wie in vielen anderen Bereichen der Erste. In seiner Abhandlung »Vom Vortrage der Fabeln« (1759) teilt er mit, daß er »mit der allzumuntern, und leicht auf Umwege führenden Erzählungsart des la Fontaine nicht zufrieden war«[3], um dann in aller Bescheidenheit auf seine eigenen Schwächen zu sprechen zu kommen. Man sieht, daß schon hier der Begriff des Umwegs metaphorisch gebraucht wird, und dazu in einer negativen, abwertenden, an Abwege erinnernden Weise. Immerhin ist damit der Begriff in die deutsche Literatur eingeführt, wenngleich es auch noch Jahre dauern sollte, bis ein ernsthafter und häufiger Gebrauch von ihm gemacht werden sollte.

Georg Christoph Lichtenberg nimmt dann mit dem ersten seiner »Sudelbücher« (1764-1770) den Begriff ganz in derselben Weise auf, wie Lessing ihn verwendet hatte, wenn er feststellt: »Ein Traum ändert daher oft unsern Entschluß, sichert unsern moralischen Fond besser als alle Lehren, die durch einen Umweg ins Herz gehen.«[4] Die Lehren, die Wissenschaften, das sind für diesen Meister der Satire die trockenen Materien, die eben nur auf Umwegen das Herz erreichen können.

Bevor wir nun aber chronologisch weiterschreiten, erscheint es sinnvoll, eine Trennung zwischen dem unmittelbaren, direkten, räumlichen und dem übertragenen Gebrauch des Wortes zu machen und das Thema in zwei größeren Kapiteln abzuhandeln. Dabei kann natürlich nicht übersehen werden, daß auch das physische Beschreiten (oder Nichtbeschreiten) eines Umweges in der Konstruktion einer Erzählung oder eines Romans eine Bedeutung einnehmen kann, die über die reine Beschreibung einer örtlichen Veränderung weit hinausweist. Nicht selten ergibt sich diese tiefere Bedeutung aus dem Zweck, dem solche Umwege gelten.

Umweg als Umleitung räumlicher Bewegung - im negativen Sinne ...

Christoph Martin Wieland ist unter unseren Autoren der erste, der - 1772 in » Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva« und 1780 in »Oberon« - von Umwegen als einer lästigen, zeitraubenden Angelegenheit schreibt, der man sich am besten gar nicht aussetzt.[5] In »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, dem Roman von Johann Wolfgang Goethe, in dem - sicher nicht zufällig - sehr häufig von Umwegen die Rede ist, gibt es 1795 im Vierten Buch ein heftiges Plädoyer für den direkten Weg: »Der Umweg bringt uns auch dahin, aber in welche schlimmen Wege verwickelt er uns, wie weit führt er uns ab!«[6] Und auch im Bericht über seine »Harzreise im Winter« schreibt Goethe 1821 direkt negativ über »einen ziemlichen Umweg«.[7]

So kritisch sich Jean Paul in seinem Roman »Titan« 1803 auf Goethe und dessen »Wilhelm Meisters Lehrjahre« beziehen mochte, teilt er doch mit ihm diese Art der Benutzung des Wortes »Umwege«[8], ebenso auch in dem Roman »Flegeljahre« von 1809, in dem es um den Widerspruch zwischen Poesie und Wirklichkeit geht.[9]

Wie sehr Heinrich Heine Umwege verabscheut hat, mag man daraus ersehen, daß er das Wort nur ein einziges Mal niedergeschrieben hat, nämlich in dem Reisebild »Die Harzreise 1824« (veröffentlicht 1825), und dort auch nur als Zitat aus dem Munde von Gutmenschen, wie es sie auch damals schon gegeben hat: »Aber es gibt immer gute Seelen, die uns wieder auf den rechten Weg bringen; sie tun es gern und finden noch obendrein ein besonderes Vergnügen daran, wenn sie uns mit selbstgefälliger Miene und wohlwollend lauter Stimme bedeuten, welche große Umwege wir gemacht, in welche Abgründe und Sümpfe wir versinken konnten und welch ein Glück es sei, daß wir so wegkundige Leute, wie sie sind, noch zeitig angetroffen.«[10]

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Ein etwas anderer, weniger negativer Gebrauch des Wortes »Umweg« ergibt sich dort, wo damit - relativ neutral - die Vergrößerung einer Entfernung benannt wird. Fast natürlich könnte man es nennen, daß diese Bedeutung bei den Schriftstellern, die sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in aufklärerischer Absicht mit besonderer Vorliebe der Beschreibung von Reisen zugewandt haben, eine größere Rolle spielt. So hat der Republikaner Georg Forster beispielsweise 1789 in seinem Buch »Cook, der Entdecker« die Länge des Umwegs seines Helden über die Osterinsel im Pazifischen Ozean vermessen[11], und Johann Gottfried Seume hat in seinen Reisebeschreibungen »Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802« (veröffentlicht 1803)[12] und »Mein Sommer« von 1806[13] gleich mehrfach über Umwege als reine Verlängerungen von Wegen berichtet.

In diese Abteilung unseres Berichts fällt auch die einzige Passage, in der Heinrich von Kleist von einem Umweg spricht, nämlich die umständliche Wiedergabe eines Briefes des Helden seiner Erzählung »Michael Kohlhaas« (von 1810) an seinen Gesellen Nagelschmidt, worin er schreibt, »daß er auch, rascheren Fortkommens wegen, noch eines Gespannes von zwei Pferden auf der Straße nach Wittenberg bedürfe, auf welchem Umweg er allein, aus Gründen, die anzugeben zu weitläufig wären, zu ihm kommen könne«[14].

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Umgekehrt wird bisweilen der Ausdruck »ohne Umwege« nur dazu benutzt, um die gerade Richtung einer Bewegung und nicht mehr auszudrücken, so etwa in Stifters »Nachsommer«[15] oder in Fontanes Roman »Schach von Wuthenow«[16].

Häufig wird die Abweichung von der geraden Richtung aber nicht freiwillig gesucht, sondern von der Landschaft, der Architektur oder Unbilden der Natur erzwungen. So spricht in »Wilhelm Meisters Lehrjahren« von Goethe der Geist des alten Königs von Dänemark: »Steile Gegenden lassen sich nur durch Umwege erklimmen, auf der Ebene führen gerade Wege von einem Ort zum andern.«[17] Bei Goethe ist im übrigen mal ein Eisfeld wie in »Wilhelm Meisters Wanderjahren«[18], mal ein Gebirge wie in der Sammlung »West-östlicher Diwan« (1819)[19], mal ein zu enger Torweg oder eine zusammengestürzte Schneebrücke wie in »Dichtung und Wahrheit« (1811/1833)[20] das Hindernis, das einen Umweg der handelnden Personen erzwingt.

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Wiederum anders steht es mit den kostspieligen Umwegen, die ganz bewußt um der Verfolgung eines besonderen Zweckes gesucht werden  Einige der wenigen Passagen, in denen Friedrich Schiller von Umwegen spricht, gehören zu dieser Unterabteilung. In seinem frühen, rebellischen Drama »Don Carlos« von 1787[21] geht es ebenso wie in einem Brief in »Der Geisterseher« aus dem Revolutionsjahr 1789[22] um nichts anderes als darum, der Kontrolle der Post durch die Mächtigen einen Strich durch die Rechnung zu machen, indem man Boten oder Briefe über Umwege schickt. Und im Drama »Wilhelm Tell« von 1804 wird der Fremdherrschaft zunächst dadurch Widerstand geleistet, daß die Verbeugung vor ihrem Symbol, dem Geßlerhut, vermieden wird:

»Nur schlecht Gesindel läßt sich sehn und schwingt

Uns zum Verdrieße die zerlumpten Mützen.

Was rechte Leute sind, die machen lieber

Den langen Umweg um den halben Flecken,

Eh sie den Rücken beugten vor dem Hut.«[23]

... und im positiven Sinne

Wir kommen jetzt zu den Umwegen, die von den Erzählenden oder den handelnden Personen in der Regel als erfreulich bewertet oder empfunden werden, weil sie der Erreichung eines positiven Zweckes dienen.

So kann ein Umweg eine Verzögerung bedeuten, die es dem so schönen Augenblick gestattet, noch länger zu verweilen, oder wenigstens kommendes Leid noch ein wenig hinausschiebt. In den »Leiden des jungen Werther«, dem ersten und so erfolgreichen Roman des jungen Goethe ist dieses Motiv zum ersten Mal angesprochen.[24].

In Mörikes »Maler Nolten«[25] wird der Lustgewinn durch verzögernde Umwege ebenso angesprochen wie in Stifters Erzählung »Feldblumen« aus dem Jahre 1841, wo den Umwegen solcher Sinn in geradezu vollendeter Form zugesprochen wird: »Nach solchen Abenden gehe ich dann im milden Vollmondscheine, den wir eben haben, mit einer fast unschuldigen, hochtönenden Seele durch alle möglichen Umwege in die Stadt zurück.«[26] Es ist geradezu eine Feier der Innerlichkeit, die in der Figur dieser Art Umwege ihren Ausdruck sucht. Kein Wunder, daß die geistverwandten Autoren Gottfried Keller und Theodor Storm ebenfalls zu dem Mittel greifen, handelnden Personen durch Umwege mehr Zeit für das Erleben ihrer Gefühle einzuräumen, Keller in seinem großen Roman »Der grüne Heinrich« (1855/zweite Fassung 1880)[27] und in der Erzählung »Die mißbrauchten Liebesbriefe« von 1874[28], Storm in seinen Novellen »Aquis submersus« von 1876[29] und »Die Söhne des Senators« von 1880[30]. Wilhelm Raabe darf natürlich in diesem Zusammenhang nicht fehlen, hier mit einer Erinnerung aus »Alte Nester«[31] von 1879.

Bei Fontane ist es nicht so sehr die einzelne Person, die ihre Glücksgefühle durch Umwege zu verlängern trachtet, sondern die spazierengehende bürgerliche Gesellschaft, die das Bedürfnis nach Fortsetzung des Gesprächs buchstäblich auf Umwegen zu befriedigen trachtet, so im Roman »Cécile« von 1886[32], in »Unwiederbringlich« (1891)[33] und auch in »Effi Briest«[34].

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Nicht ganz eindeutig zu trennen von diesen eher spontanen Umwegen zum Zwecke des Lustgewinns sind die geplanten Umwege eines Umzugs zum Zwecke der längeren Dauer. Berühmt ist beispielsweise der Krönungszug in Frankfurt, wie ihn Goethe in »Dichtung und Wahrheit« schildert: » Der prächtigste Staatswagen, auch im Rücken mit einem ganzen Spiegelglas versehen, mit Malerei, Lackierung, Schnitzwerk und Vergoldung ausgeziert, mit rotem gestickten Samt obenher und inwendig bezogen, ließ uns ganz bequem Kaiser und König, die längst erwünschten Häupter, in aller ihrer Herrlichkeit betrachten. Man hatte den Zug einen weiten Umweg geführt, teils aus Notwendigkeit, damit er sich nur entfalten könne, teils um ihn der großen Menge Menschen sichtbar zu machen. Er war durch Sachsenhausen, über die Brücke, die Fahrgasse, sodann die Zeile hinunter gegangen, und wendete sich nach der innern Stadt durch die Katharinenpforte, ein ehmaliges Tor und seit Erweiterung der Stadt ein offner Durchgang.«[35]

Am klarsten kommt die Intention dieser Art Umwege bei Gottfried Keller in einer Szene zum Ausdruck, die er nach dreißig Jahren auch in der zweiten Fassung seines Romans »Der grüne Heinrich« beibehalten hat: »Mir schwebten sogleich gelesene Volksbewegungen und Revolutionsszenen vor. 'Wir müssen uns in gleichmäßigere Glieder abteilen', sagte ich zu den Rädelsführern, 'und in ernstem Zuge ein Vaterlandslied singen!' Dieser Vorschlag wurde beliebt und sogleich ausgeführt; so durchzogen wir mehrere Straßen, die Leute sahen uns mit Staunen nach, ich schlug vor, noch einen Umweg zu machen und dies Vergnügen so lange als möglich andauern zu lassen. Auch dies geschah, allein zuletzt langten wir doch am Ziele an.«[36]

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Häufig wird ein Umweg als die bequemere, sichere Alternative zu einem direkten, aber gefährlichen und anstrengenden Weg genannt. Das bewegendste Beispiel ist die erregende Szene aus Goethes »Wahlverwandtschaften« von 1809, in der die Wahl des direkten Weges dann auch direkt in die Katastrophe führt: »Die Sonne war untergegangen, und es dämmerte schon und duftete feucht um den See. Ottilie stand verwirrt und bewegt; sie sah nach dem Berghause hinüber und glaubte Charlottens weißes Kleid auf dem Altan zu sehen. Der Umweg war groß am See hin; sie kannte Charlottens ungeduldiges Harren nach dem Kinde. Die Platanen sieht sie gegen sich über, nur ein Wasserraum trennt sie von dem Pfade, der sogleich zu dem Gebäude hinaufführt. Mit Gedanken ist sie schon drüben wie mit den Augen. Die Bedenklichkeit, mit dem Kinde sich aufs Wasser zu wagen, verschwindet in diesem Drange. Sie eilt nach dem Kahn, sie fühlt nicht, daß ihr Herz pocht, daß ihre Füße schwanken, daß ihr die Sinne zu vergehen drohn.«[37]

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Am häufigsten überhaupt werden in der hier behandelten deutschen Literatur Umwege geschildert, die dazu dienen sollten, irgend etwas - etwa ein Kunstwerk, eine Stadt oder eine Landschaft - kennenzulernen oder irgend jemanden zu besuchen oder zu begleiten. Buchenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem ein Umweg, den Goethe in seinem Bericht über die »Italienische Reise« (1816) notiert hat: »Heute abend hätte ich können in Verona sein, aber es lag mir noch eine herrliche Naturwirkung an der Seite, ein köstliches Schauspiel, der Gardasee, den wollte ich nicht versäumen, und bin herrlich für meinen Umweg belohnt.«[38] Eher gut erfunden ist dann wohl die Geschichte über einen frühen US-Touristen auf Europa-Reise, die Wilhelm Hauff 1827 in seinen »Mitteilungen aus den Memoiren des Satan« erzählt: »Geradeso erging es mir in Weimar; ich fuhr von Jena aus mit einem jungen Amerikaner hinüber. Auch in sein Vaterland war des Dichters Ruhm schon längst gedrungen, und er machte auf der großen Tour durch Europa dem berühmten Mann zu Ehren schon einen Umweg von zwanzig Meilen. In dem Gasthof, wo wir abgestiegen waren, fragten wir sogleich, um welche Zeit wir bei Herrn von Goethe vorkommen könnten? Wir waren in Reisekleidern, die besonders bei meinem Gefährten etwas unscheinbar geworden waren; der Wirt musterte uns daher mit mißtrauischen Blicken und fragte, ehe er noch unsere Frage beantwortete, ob wir auch Fracks bei uns hätten?«[39]

Adalbert Stifters Liebe zu den Bergen kommt in der Erzählung »Zwei Schwestern« aus dem Jahre 1846 zum Ausdruck: »Als wir unser Mittagmahl unter den Kastanien verzehrt hatten, begleitete mich Alfred auf einem großen Umwege durch das Gebirg, welchen Umweg er mich geführt hatte, damit ich auch diese Teile der Gebirge kennen lernte.«[40] Bisweilen ist es aber auch die Liebe zu einem Tal (oder die Gastfreundschaft), die einen Umweg lohnend machen. So heißt es im »Nachsommer«: »Ich fuhr mit meinem Gastfreunde nur bis an die Poststraße, und auf derselben bis zur ersten Post. Dort trennten wir uns. Er fuhr auf Nebenwegen dem Asperhofe zu, weil er mir zu lieb einen Umweg gemacht hatte, ich aber schlug mit Postpferden die Richtung gegen das Kargrat ein.... Ich ging jetzt in das Lautertal, um es zu besuchen. Es war in der Richtung nach meiner Heimat ein geringer Umweg, und ich wollte das Tal, das mir lieb geworden war, wieder sehen.«[41]

Bei Wilhelm Raabe wird diese Liebe zur Heimat und ihren Menschen sogar noch zugespitzt. In seinem Roman »Der Hungerpastor« von 1864 wird sie zum Kriterium, an dem die Charaktere der beiden Hauptpersonen Hans Unwirrsch und Moses Freudenstein gemessen werden: »Beim Beginn jeder Ferien schnürte Hans seinen Ranzen mit hoher Freude zur Fahrt nach der Heimat und steuerte derselben manchmal auf einem kleinen Umwege, aber immer mit dem nämlichen Behagen entgegen. Und jedesmal trat er mit lichterm Haupt und mit erweitertem Herzen in den kleinen, engen Kreis der treuen, beschränkten Menschen, die er hinter sich zurückgelassen hatte, die er aber nicht verachtete, wie Moses sie verachtete.«[42] Auch in den Romanen »Frau Salome« von 1875[43] und »Alte Nester« (1879)[44] läßt Raabe spüren, wie wichtig ihm Umwege erscheinen, um freundliche oder schöne Menschen in ihrer Umgebung sehen zu können. Ähnlich verbunden mit der Landschaft seiner Heimat zeigt sich Theodor Storm in »Aquis submersus«[45] und am Ende seiner berühmten Novelle »Der Schimmelreiter« von 1888, wo es heißt: »Aber der Hauke-Haien-Deich steht noch jetzt nach hundert Jahren, und wenn Sie morgen nach der Stadt reiten und die halbe Stunde Umweg nicht scheuen wollen, so werden Sie ihn unter den Hufen Ihres Pferdes haben.«[46]

Bei Theodor Fontane ist das Vergnügen an einem Umweg zum Zweck eines Besuchs oder einer »Rekognoszierung« gesellschaftlich vermittelt, was sich schon in den Satzkonstruktionen ausdrückt: »Man« trifft sich, steht vom Essen auf, fährt nach Charlottenburg usw., und wo ein Umweg gemacht wird, da erscheint er als ein besonders gelungener Tribut an die gesellschaftlichen Konventionen - oder auch als ein Indiz ihrer eigensinnigen Mißachtung. Man vergleiche etwa Passagen aus den Romanen »Vor dem Sturm« (1878)[47], »Cécile« (1886)[48] und »Irrungen, Wirrungen« (1887)[49] oder aus der Erzählung «Mathilde Möhring« (veröffentlicht 1906)[50] mit dem folgenden Passus aus »Effi Briest«: »In dem Eßsaal hörte sie das Geklapper des Geschirrs. Aber mit einem Male war es ihr, als ob die Stühle geschoben würden; vielleicht stand man schon auf, und sie wollte jede Begegnung vermeiden. So erhob sie sich auch ihrerseits rasch wieder von ihrem Platz, um auf einem Umweg nach der Stadt zurückzukehren. Dieser Umweg führte sie dicht an dem Dünenkirchhof vorüber, und weil der Torweg des Kirchhofs gerade offenstand, trat sie ein. Alles blühte hier, Schmetterlinge flogen über die Gräber hin, und hoch in den Lüften standen ein paar Möwen.«[51]

Ganz anders die Situation in Franz Kafkas Roman »Der Prozeß«, wo junge Mädchen den Umweg über die zweite Tür eines Ateliers finden, um auf seinen Helden K. einzudringen, gewissermaßen eine frühe Form der Beatle-Manie.[52] Auch hier der positive Zweck der Suche, aber von dem Gesichtspunkt des Gesuchten her eine Empfindung der Bedrängnis.

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Mit Umwegen können aber auch noch andere, sehr spezifische Zwecke verfolgt werden. Goethe erzählt in seinem Bericht über die »Campagne in Frankreich 1792«, daß er am weimarischen Hof um Erlaubnis bat, einen kleinen Umweg machen zu dürfen, um an einer Wildschweinjagd, die auf das häufige Klagen des Landvolks im Eisenachischen unternommen wurde, nicht teilnehmen zu müssen.[53] Wilhelm Hauff wiederum berichtet in seinem »Märchenalmanach auf das Jahr 1826« aus eben diesem Jahre von einem Seefahrer, der auf dem Rückweg in sein Vaterland einen Umweg machte, indem er an vielen Ländern und Inseln landete und seine Waren zu Markt brachte.[54]

Umwege können aber vor allem auch dazu dienen, Verfolger in die Irre zu führen, wie das Bettina von Arnim in ihrem Roman »Die Günderode« von 1840 meisterinnenhaft ausgemalt hat: »Ist es nicht jene ungeübte Kraft, die sinnlich ausbricht und sich üben will! - Sei's die Spur der Gemse, die der Jäger verfolgt, wenn nicht jener weißen Hindin mit goldnem Geweih, die lockend tausend Umwege macht, ihn ins Dickicht zu leiten, wo im Eingang von Labyrinthen rätselhafte Mächte ihn ergreifen, die sein Aug berühren und sein Ohr, daß er begreife, was nur unschuldvoller, kühner, sich selbst regender Geist ahnen und fassen kann.«[55] Ähnlich erzählt Adalbert Stifter in seiner Novelle »Abdias« aus dem Jahre 1843 von den Spuren einer Eselin, die »in Umwegen gegen die Wüste hinausgingen«[56]; und in Jeremias Gotthelfs Roman »Uli der Pächter« ist es ein Bursche, der gelegentlich Umwege macht, »um auf falsche Spur zu leiten«.[57]

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Am Ende gibt es auch noch Umwege, die nicht von Menschen gemacht werden, sondern vom Wasser. Friedrich Hölderlin soll hier mit einer Passage aus »Hyperion oder der Eremit in Griechenland« aus dem Jahre 1797 als erster zu Wort kommen. Es heißt dort: »Ich wandte mich südwärts und ging weiter. Da lag es offen vor mir, das ganze paradiesische Land, das der Kayster durchströmt, durch so manchen reizenden Umweg, als könnt er nicht lange genug verweilen in all dem Reichtum und der Lieblichkeit, die ihn umgibt.«[58]

Clemens Brentano läßt in seiner Schrift »Aus der Chronik eines fahrenden Schülers« die Umwege eines Baches zum Sinnbild der Lebensfülle werden: »Wir standen aber auf einer grünen Waldwiese, die ein frischer Quell erquickte, der mit Umwegen an dem mannigfaltig unterbrochenen Abhange zu der Lahn hinabeilte. Wo wir standen, war die Gegend sanft und mild, ein großer alter Birnbaum hing schwer voll gelber Birnen, und um ihn her standen mehrere Vogelbeerbäume, die mit ihren feuerfarbenen Früchten lustig gegen den dunkeln Wald abstachen; außerdem begrenzten und durchschnitten den Platz mancherlei Fruchtsträucher, Haselbüsche, Johannis- und Klosterbeersträucher, und ich hatte die Fülle zu brechen und zu genießen.«[59] Und ganz ähnlich kommt in Bettina von Arnims »Die Günderode« die Ich-Erzählerin »an eine Stelle, wo Felssteine liegen, und der Bach teilt sich und muß Umwege machen und schäumt und braust«.[60]

Den interessantesten Umweg aber nimmt das Wasser im folgenden Monolog:

»SIEGFRIED (horcht.) Ja, es rauscht!

Willkommen, Strahl! Ich liebe dich zwar mehr,

Wenn du, anstatt so kurz vom Stein heraus

Zu quellen und mir in den Mund zu springen,

Den krausen Umweg durch die Rebe nimmst,

Denn du bringst vieles mit von deiner Reise,

Was uns den Kopf mit muntrer Torheit füllt,

Doch sei auch so gepriesen.«

Unmittelbar vor seinem Tod durch Meuchelmord preist Siegfried in Friedrich Hebbels Drama »Die Nibelungen« von 1862[61] noch die Transsubstantiation des Wassers in Wein durch den Umweg über die Reben. Kann es Schöneres geben?

Umweg als Metapher - im negativen Sinne ...

Wenn wir uns nun dem Umweg als Metapher in der deutschen Literatur zuwenden, so sehen wir bald, daß die Vielzahl der Bedeutungen und Wertungen ähnlich ist wie beim Gebrauch dieses Begriffs im direkten wörtlichen Sinne. Wir verfahren deshalb ähnlich wie im ersten Teil dieser Arbeit: zunächst das Negative.

Auch hier können wir mit Christoph Martin Wieland beginnen, der in seiner »Geschichte des Agathon« von 1767[62] gewarnt hat, auf der Suche nach der vernünftigsten, tugendhaftesten und liebenswürdigsten Frau unter den Schönsten zu suchen, weil das einen Umweg bedeute. Wichtiger für unseren Zusammenhang ist allerdings die Mahnung, die von Wieland in seiner »Geschichte der Abderiten« von 1774 dem Demokritus in den Mund gelegt wird und in der es um die Prinzipien der Welterkenntnis geht: »Wenn es euch etwan wirklich darum zu tun sein sollte, die Beschaffenheit der Dinge, die euch umgeben, kennen zu lernen, so deucht mich, ihr nehmt einen ungeheuren Umweg. Die Welt ist sehr groß; und von dem Standort, woraus wir in sie hineingucken, nach ihren vornehmsten Provinzen und Hauptstädten ist es so weit, - daß ich nicht wohl begreife, wie sich einer von uns einfallen lassen kann, die Charte eines Landes aufzunehmen, wovon ihm (sein angebornes Dörfchen ausgenommen) alles übrige, und sogar die Grenzen unbekannt sind. Ich dächte, ehe wir Kosmogonien und Kosmologien träumten, setzten wir uns hin und beobachteten, zum Exempel, den Ursprung einer Spinnewebe; und dies so lange, bis wir so viel davon herausgebracht hätten, als fünf Menschensinne, mit Verstand angestrengt, daran entdecken können. Ihr werdet zu tun finden, das könnt ihr mir auf mein Wort glauben. Aber dafür werdet ihr auch erfahren, daß euch diese einzige Spinnewebe mehr Aufschluß über das große System der Natur, und würdigere Begriffe von seinem Urheber geben wird, als alle die feinen Weltsysteme, die ihr zwischen Wachen und Schlaf aus eurem eignen Gehirne herausgesponnen habt.«

Wenn Goethe metaphorisch von Umwegen als kostspieligen Abwegen spricht, so bezieht sich das weniger auf die Welterkenntnis als auf den Bildungsweg, den ein junger Weltbürger nimmt. In diesem Sinne benutzt er den Begriff dann freilich sehr häufig: in »Wilhelm Meisters Lehrjahre«[63], gleich mehrfach in der »Einleitung in die Propyläen« von 1798[64], mehrfach auch in »Wilhelm Meisters Wanderjahre«[65], am häufigsten aber natürlich in »Dichtung und Wahrheit«, wo es um seinen eigenen Bildungsweg geht[66]. Eine charakteristische Passage ist die folgende: »Was wir können und möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliche. Liegt nun eine solche Richtung entschieden in unserer Natur, so wird mit jedem Schritt unserer Entwickelung ein Teil des ersten Wunsches erfüllt, bei günstigen Umständen auf dem geraden Wege, bei ungünstigen auf einem Umwege, von dem wir immer wieder nach jenem einlenken.«[67] In Goethes »Maximen und Reflexionen« aus dem Nachlaß fand sich schließlich noch der Satz: »Die großen Umwege [?] erspart sich der Geist.«[68]

Joseph von Eichendorff polemisiert in seiner »Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands« von 1857 gleich mehrfach gegen »ungeheure« oder »bedenkliche« Umwege, wie er sie beispielsweise im »irdischen Vergnügen an Gott« des Hamburger Ratsherrn Brockes (zu Beginn des 18. Jahrhunderts) oder in den Auffassungen Lessings über die Tragödie gegeben sah[69], und hätte wohl lieber gesehen, daß der Geist sich diese Umwege tatsächlich erspart hätte.

Diese direkt negative Bewertung von Umwegen findet sich auch bei anderen Autoren. So sagt Amalia in Friedrich Schlegels »Gespräch über die Poesie« von 1800: »Diese Mittel werfen sich oft zum Zweck auf, und immer bleibt es ein gefährlicher Umweg, der gar zu oft den Sinn für das Höchste tötet, ehe das Ziel erreicht ist.«[70] Und Wilhelm Hauff schreibt in seinen schon mehrfach erwähnten »Mitteilungen aus den Memoiren des Satans«, jemand sei in seinen Geschäften den geraden, ehrlichen Weg gegangen, »nicht weil er ihm angenehmer war, sondern weil er es unbequem finden mochte, Winkelzüge und Umwege zu machen«.[71] Gottfried Keller schließlich klagt in der zweiten Fassung seines Romans »Der grüne Heinrich« von 1880, wie teuer einen Menschen Umwege, zu denen ihn der Weltlauf zwingt, zu stehen kommen können.[72]

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Jean Paul ist der Meister des Umwegs als Verzögerung im übertragenen Sinne. Immer wieder benutzt er in den Romanen »Titan«[73] und »Dr. Katzenbergers Badereise«[74] das Bild des Umwegs, um Verzögerungen des Handlungsablaufs oder der Gesprächsführung zu bezeichnen. Wie er selbst sagt: »Unsere Psyche kann, möcht' ich sagen, gleich den Vögeln nie steilrecht oder gerade auffliegen, sondern nur auf dem schiefen Umweg.«[75]

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E.T.A. Hoffmann blieb es vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß sich Kunstbanausen auch durch die weitesten Umwege nicht davon abhalten lassen, die empfindliche Seele des wahren Künstlers in grausamster Weise zu quälen. In den »Fantasiestücken in Callots Manier« schreibt er 1814: »Ist es Denenselben noch nie begegnet, daß Sie, um irgend etwas Musikalisches vorzutragen oder vortragen zu hören, sechs bis sieben Zimmer weit von der sprechenden Gesellschaft fortgingen, daß aber diese dessen ungeachtet hinterdrein gerannt kam und zuhörte, d.h. nach möglichsten Kräften schwatzte? Was mich betrifft, ich glaube, den Leuten ist zu diesem Zwecke kein Weg ein Umweg, kein Gang zu weit, keine Treppe, ja kein Gebirge zu steil und zu hoch.«[76]

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... in beiderlei  Sinn ...

Bisweilen läßt sich nicht recht entscheiden, ob denn ein Umweg positiv oder negativ bewertet wird. So hat die Französische Revolution eine Diskussion in Europa über die Frage ausgelöst, welcher der natürliche Entwicklungsweg einer Nation sei und ob in der Geschichte der Nationen Umwege der Entwicklung im Sinne von zeitweiligen Abirrungen nicht doch einen positiven Wert haben können. Von unseren Autoren hat vor allem Georg Forster in seiner Schrift »Parisische Umrisse« von 1794 diese Frage gestellt,[77] und Georg Christoph Lichtenberg hat dazu 1796 im letzten seiner »Sudelbücher« wesentlich pessimistischer als Forster Stellung genommen.[78]

Goethe bezieht diese teleologische Bewertung von Umwegen in »Wilhelm Meisters Lehrjahre« von 1795 auf die Entwicklung des einzelnen Menschen: »Der Mensch kommt manchmal, indem er sich einer Entwicklung seiner Kräfte, Fähigkeiten und Begriffe nähert, in eine Verlegenheit, aus der ihm ein guter Freund leicht helfen könnte. Er gleicht einem Wanderer, der nicht weit von der Herberge ins Wasser fällt; griffe jemand sogleich zu, risse ihn ans Land, so wäre es um einmal naß werden getan, anstatt daß er sich auch wohl selbst, aber am jenseitigen Ufer, heraushilft und einen beschwerlichen weiten Umweg nach seinem bestimmten Ziele zu machen hat.« Und zwei Jahre später stellt sich Johann Gottfried Herder in seiner Schrift »Briefe zur Beförderung der Humanität« sogar einen Jüngling vor, dem es gelänge, die Wahrheit «auf gewählten Umwegen geschickt zu befördern".[79]

Der Umweg, der dazu bestimmt ist, schließlich doch zum Ziel zu führen, ist Thema auch in Eduard Mörikes Roman »Maler Nolten«[80] und als »Umweg zur Tugend« in Joseph von Eichendorffs Drama »Die Freier« von 1833[81].

In Rainer Maria Rilkes Schrift »Auguste Rodin« von 1903 gibt es Umwege auf dem Weg zur Schönheit, Umwege, die auch positiv sein können: »Für alle, denen das einfache Schauen ein zu ungewohnter und schwerer Weg zur Schönheit ist, giebt es andere Wege, Umwege über Bedeutungen, die edel sind, groß und voll Gestalt.«[82] Und im zweiten Teil dieser Schrift von 1907 sagt Rilke von dem »Dichter, der Orpheus heißt«, daß »sein Arm auf einem ungeheuern Umweg über alle Dinge zu den Saiten geht«.[83]

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Bei einer weiteren Bedeutung, die Umwegen in der deutschen Literatur zugesprochen wird, hängt es wesentlich vom Standpunkt der Betrachterin oder des Betrachters ab, ob die Umwege als positiv oder negativ bewertet werden. In »Hermann und Dorothea«, dem Werk, in dem Goethe 1796 versucht hat, die Dinge in der bürgerlichen Welt nach der Französischen Revolution wieder an ihren Platz zu rücken, läßt der Dichter »die verständige Mutter« - in Hexametern, versteht sich - zu ihrem Sohn über den Unterschied zwischen Männern und Weibern reden:

»Denn die Männer sind heftig und denken nur immer das Letzte,

Und die Hindernis treibt die Heftigen leicht von dem Wege;

Aber ein Weib ist geschickt, auf Mittel zu denken, und wandelt

Auch den Umweg, geschickt zu ihrem Zweck zu gelangen.«[84]

Jeremias Gotthelf hat wohl in seinem Roman »Geld und Geist« mit den folgenden Sätzen dasselbe sagen wollen: »Mädchen scheuen dieses Geradeaus, kommen lieber hintenum zur Sache oder so bei Längem, süferli, wie eine Katze zur Maus; so geht es freilich oft leichter, aber es ist doch nicht jedes Mannes Sache, und auch oft kömmt man vor lauter Umwegen nicht zur Sache.«[85]

... und im positiven Sinne

Mit den bisher behandelten Wendungen aus der deutschen Literatur von Lessing bis Kafka haben wir die ganz überwiegende Mehrheit der Passagen benannt, in denen Umwege überhaupt eine Rolle spielen. In der Mehrheit dieser Fälle ist es die ganz einfache wörtliche Bedeutung, die von unseren Autorinnen und Autoren gemeint ist. Wo aber das Wort im übertragenen Sinne verwendet wird, haben wir es sehr häufig mit einer negativen, allenfalls neutralen Bewertung zu tun. Nun bleiben uns die wenigen Passagen zu behandeln, in denen das Wort - so wie es den Herausgebern wohl vorschwebte - im übertragenen Sinne gemeint und gleichwohl positiv bewertet wird.

Aber auch hier muß man Vorsicht walten lassen. In »Wilhelm Meisters Lehrjahre« bezeichnet Goethe das Schauspiel als eine sehr nützliche Übung, ja als »die beste Art, die Menschen aus sich heraus- und durch einen Umweg wieder in sich hineinzuführen.«[86] Im selben Buch beschreibt Goethe das ganze Leben »von der Empfängnis und Geburt bis zu dem Grabe« als einen »sonderbaren Umweg wieder zu den lichten Höhen«.[87] Der Weg über den Umweg erscheint hier zwar als eine durchaus gute Sache, aber nicht weil, sondern obwohl er ein Umweg ist. Und das gilt selbst für den Weg der Maria von Magdala zur Heiligkeit, der nach Goethe »freilich ein Umweg, aber desto lustiger und sichrer«[88] ist. Und es gilt erst recht für die Passagen in »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, in denen Umwege als glückliche Fügungen erscheinen, die den Weg zum Ziel oder gar zum Glück möglich werden lassen.[89]

Ohne solche Umwege, die das Leben und die Welt bunter und lebendiger machen, würden wir wahrscheinlich nicht leben wollen. Und das ist es wohl auch, was Clemens Brentano gemeint hat, wenn es in seinem Roman Godwi heißt: »Soll ich mein Leben vielleicht auf einen Karren packen lassen und es auf Rädern, die sich immer um sich selbst drehen und keiner Pfütze ausweichen, hinleiern? Nein, auf einem unbändigen Rosse ein mächtiger Reuter, will ich meine Bahn durch eilen, um auf vielen Umwegen mit euch Langsamen zugleich anzukommen und doch von manchem goldnen Rande einen Tropfen, von mancher Purpurlippe einen Kuß gesaugt zu haben. Leben heißt nicht hundert Jahre alt werden, Leben heißt Fühlen und Fühlenmachen, daß man dasei, durch Genuß, den man nimmt und mit sich wiedergiebt.«[90] Und die Farbigkeit und Vielfalt des Lebens ist auch gemeint, wenn Friedrich Schiller in seinem Drama »Wallenstein« von 1799 Octavio sagen läßt:

»Denn immer war die Willkür fürchterlich -

Der Weg der Ordnung, ging' er auch durch Krümmen,

Er ist kein Umweg. Grad aus geht des Blitzes,

Geht des Kanonballs fürchterlicher Pfad -

Schnell, auf dem nächstem Wege, langt er an,

Macht sich zermalmend Platz, um zu zermalmen.

Mein Sohn! Die Straße, die der Mensch befährt,

Worauf der Segen wandelt, diese folgt

Der Flüsse Lauf, der Täler freien Krümmen,

Umgeht das Weizenfeld, den Rebenhügel,

Des Eigentums gemeßne Grenzen ehrend -

So führt sie später, sicher doch zum Ziel.«[91]

***

Wir sind nun fast am Ende angekommen und müssen feststellen, daß in der hier behandelten Literatur von einer Begeisterung für die erkenntnisfördernde Wirkung von Umwegen, wie sie die Herausgeber dieses Bandes zu bewegen scheint, kaum etwas zu spüren ist. Allenfalls läßt sich mit Friedrich Schillers Abhandlung »Kallias oder über die Schönheit« aus dem Jahre 1795 noch über die unvermeidbare Notwendigkeit von Umwegen in Literatur (und Wissenschaft) sprechen: »Sowohl die Worte, als ihre Biegungs- und Verbindungsgesetze sind ganz allgemeine Dinge, die nicht einem Individuum, sondern einer unendlichen Anzahl von Individuen zum Zeichen dienen. Noch weit mißlicher steht es um die Bezeichnung der Verhältnisse, welche nach Regeln bewerkstelligt wird, die auf unzählige und ganz heterogene Fälle zugleich anwendbar sind und nur durch eine besondere Operation des Verstandes einer individuellen Vorstellung angepaßt werden. Das darzustellende Objekt muß also, ehe es vor die Einbildungskraft gebracht und in Anschauung verwandelt wird, durch das abstrakte Gebiet der Begriffe einen sehr weiten Umweg nehmen, auf welchem es viel von seiner Lebendigkeit (sinnlicher Kraft) verliert. Der Dichter hat überall kein anderes Mittel um das Besondere darzustellen, als die künstliche Zusammensetzung des Allgemeinen.«[92]

So bleibt denn als Trost allein der Satz aus »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, den wir dieser Zusammenstellung als Motto vorangestellt haben und hier noch einmal wiederholen: »Wissenschaften entfernen sich im ganzen immer vom Leben und kehren nur durch einen Umweg wieder dahin zurück.« Dieser Umweg zum Leben zurück, er findet zwar in der Literatur und in der richtig betriebenen Wissenschaft statt, er ist aber in der hier behandelten Literatur selbst nicht zum Thema geworden.

Doch halt! Es gibt noch eine Passage aus Bettina von Arnims Band »Dies Buch gehört dem König« aus dem Jahre 1843, in der sie Umwege als listige Wege Gottes geradezu feiert: »Diese Widersetzlichkeit im Menschengeschlecht ist es eben, was dem göttlichen Schöpfungsgeist so viel Schwierigkeiten macht. Und derlei mißwilligen Hoffart, der sich ihm widerstemmt, vergießt eben Gott sein besten Schweiß bei der Weltschöpfung. Das verdrießt ihn aber nicht, er übt darin seine Weisheit, er wandelt in ewigen listigen Umwegen um euch herum, und verläßt seine Werkstätte nicht Sonntags und nicht Werktags. Ja, eure verschlafne Begriffe benutzt er, um durch den Traum euch den Unterschied von der Wirklichkeit zu lehren.«[93]

Sollte Goethe vielleicht doch Recht damit haben, daß die Frauen sich mit Umwegen besser auskennen?[94]



[1] Wilhelm Meisters Wanderjahre, Drittes Buch (Aus Makariens Archiv), Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Hamburg 1948ff., Auflage von 1959/60, Band 8, S. 471

[2] Im Jahre 1990 schrieb er nämlich, daß »... für Marx die Vorstellung, daß sich Sozialismus beschränkt auf einen relativ rückständigen Teil der Peripherie des kapitalistischen Welt­systems herausbilden könnte, undenkbar war. Höchstens mochte er sich die Frage stellen, ob bestimmte Länder der Peripherie im Rahmen einer Weltrevolution dazu in der Lage seien, an historische Produktionsverhältnisse anzuknüpfen und sich so den beschwerlichen Umweg über den kapitalistischen Entwicklungsweg zu ersparen.« Urs Müller-Plantenberg, Was heute Sozialismus sein könnte, in: Lateinamerika-Nachrichten, Heft 198, 1990, S. 21, auch in: Urs Müller-Plantenberg, Vorschläge, Münster 1997, S. 65

[3] Gotthold Ephraim Lessing, Werke, 8 Bände, München 1970 ff., Band 5, S. 413

[4] Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, 3 Bände, München 1967 ff., Band 1, S. 36

[5] Christoph Martin Wieland, Werke, München 1964ff., Band 1, S. 232 und Band 5, S. 206

[6] Viertes Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 7, S. 221

[7] Goethe, Berliner Ausgabe, 22 Bände, Berlin 1960ff., Band 17, S. 603

[8] Fünfunddreißigste Jobelperiode, Jean Paul, Werke, I. Abteilung, 6 Bände München 1959ff., Band 3, S. 821

[9] Nr. 49, Blätter-Erz, Jean Paul, Werke, I. Abteilung, Band 2, S. 900

[10] Heinrich Heine, Werke und Briefe in zehn Bänden, Berlin und Weimar 1972, 2. Auflage, Band 3, S. 45

[11] Georg Forster, Werke in vier Bänden, Leipzig 1971, Band 2, S. 136f.

[12] Johann Gottfried Seume, Prosaschriften, Köln 1962, S. 229, 313, 379, 455f.

[13] Johann Gottfried Seume, Prosaschriften, S. 673, 674, 824

[14] Heinrich von Kleist, Werke und Briefe in vier Bänden, Berlin und Weimar 1978, Band 3, S. 81f.

[15] Erster Band, Adalbert Stifter, Gesammelte Werke, Band 4, S. 91, 223

[16] Theodor Fontane, Romane und Erzählungen, Band 3, S. 471f.

[17] Siebentes Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 7, S. 495

[18] Zweites Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 8, S. 215. „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ ist das Werk, in dem überhaupt am häufigsten von Umwegen die Rede ist.

[19] Israel in der Wüste, Goethe, Berliner Ausgabe, Band 3, S. 265f.

[20] Fünftes Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 9, S. 192, Neunzehntes Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 10, S. 150f.

[21] Erster Akt, Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, München 1962, 3. Auflage, Band 2, S. 98

[22] Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Band 5, S. 122f.

[23] Dritter Aufzug, Dritte Szene, Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, München 1962, Band 2, S. 974

[24] Zweites Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 6, S. 101

[25] Erster Teil, Eduard Mörike: Sämtliche Werke, Band 1, S. 77

[26] Studien, Adalbert Stifter, Gesammelte Werke, Band 1, S. 106

[27] Erste Fassung, Vierter Band, Gottfried Keller, Sämtliche Werke, Band 3, S. 876

[28] Die Leute von Seldwyla, Gottfried Keller, Sämtliche Werke, Band 6, S. 391

[29] Theodor Storm, Sämtliche Werke in vier Bänden, Berlin und Weimar 1978, 4. Auflage, Band 2, S. 672f.

[30] Theodor Storm, Sämtliche Werke, Band 3, S. 275f.

[31] Erstes Buch, Wilhelm Raabe, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Berlin 1964ff., Band 6, S. 36

[32] Theodor Fontane, Romane und Erzählungen, Band 4, S. 432

[33] Theodor Fontane, Romane und Erzählungen, Band 6, S. 132

[34] Theodor Fontane, Romane und Erzählungen, Band 7, S. 86

[35] Fünftes Buch, Goethes Werke, Hamburge Ausgabe, Band 9, S. 192

[36] Erster Band, Gottfried Keller, Sämtliche Werke, Band 3, S. 201; Erster Band, Gottfried Keller, Sämtliche Werke, Band 4, S. 145

[37] Zweiter Teil, Goethes Werke, Hamburge Ausgabe, Band 6, S. 456

[38] Vom Brenner bis Verona, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 11, S. 28

[39] Wilhelm Hauff, Sämtliche Werke, Band 1, S. 455

[40] Studien, Adalbert Stifter, Gesammelte Werke, Band 2, S. 614

[41] Dritter Band, Adalbert Stifter, Gesammelte Werke, Band 4, S. 644f.

[42] Wilhelm Raabe, Ausgewählte Werke, Band 3, S. 132

[43] Wilhelm Raabe, Ausgewählte Werke, Band 5, S. 302

[44] Erstes Buch, Wilhelm Raabe, Ausgewählte Werke, Band 6, S. 48, Zweites Buch, Wilhelm Raabe, Ausgewählte Werke, Band 6, S. 245

[45] Theodor Storm, Sämtliche Werke, Band 2, S. 654

[46] Theodor Storm, Sämtliche Werke, Band 4, S. 371

[47] Vierter Band, Theodor Fontane, Romane und Erzählungen, Band 2, S. 326

[48] Theodor Fontane, Romane und Erzählungen, Band 4, S. 329, 330

[49] Theodor Fontane, Romane und Erzählungen, Band 5, S. 124

[50] Theodor Fontane, Romane und Erzählungen, Band 7, S. 467

[51] Theodor Fontane, Romane und Erzählungen, Band 7, S. 115

[52] Franz Kafka Gesammelte Werke, Band 1, S. 198

[53] Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 10, S. 325

[54] Wilhelm Hauff, Sämtliche Werke, Band 2, S. 34

[55] Zweiter Teil, Bettina von Arnim, Werke und Briefe, 5 Bände, Frechen 1959, Band 1, S. 447

[56] Studien, Adalbert Stifter, Gesammelte Werke, Band 2, S. 64

[57] Jeremias Gotthelf, Ausgewählte Werke, Band 2, S. 197

[58]Erster Band, Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Kleine Stuttgarter Ausgabe, 6 Bände, Stuttgart 1946ff., Band 3, S. 22

[59] Clemens Brentano, Werke, Band 2, S. 622

[60] Erster Teil, Bettina von Arnim, Werke und Briefe, Band 1, S. 447

[61] Siegfrieds Tod, Friedrich Hebbel, Werke, Band 2, S. 202

[62] Achtes Buch, Christoph Martin Wieland, Werke, Band 1, S. 666

[63] Sechstes Buch, Bekenntnisse einer schönen Seele, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 7, S. 395

[64] Goethe, Berliner Ausgabe, Band 19, S. 177f., 179f.

[65] Erstes Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 8, S. 148, Zweites Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 8, S. 279

[66] Elftes Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 9, S. 490, 502f., Fünfzehntes Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 10, S. 68f.

[67] Neuntes Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 9, S. 386f.

[68] Skizziertes, Zweifelhaftes, Unvollständiges, Goethe, Berliner Ausgabe, Band 18, S. 675

[69] Joseph von Eichendorff, Werke, Band 3, S 685, 727f., 765

[70] Epochen der Dichtkunst, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Erste Abteilung, Kritische Neuausgabe, München, Paderborn, Wien 1958ff., Band 2, S. 305f.

[71] Wilhelm Hauff, Sämtliche Werke, Band 1, S. 574

[72] Vierter Band, Gottfried Keller, Sämtliche Werke, Band 4, S. 839

[73] Erste Jobelperiode, Jean Paul, Werke, I. Abteilung, Band 3, S. 28; Elfte Jobelperiode, Jean Paul, Werke, I. Abteilung, Band 3, S. 287

[74]  26. Summula, Neuer Gastrollenspieler, Jean Paul, Werke, I. Abteilung, Band 6, S. 204; 38. Summula, Wie Katzenberger seinen Gevatter und andere traktiert, Jean Paul, Werke, I. Abteilung, Band 6, S. 278; 45. Summula, Ende der Reisen und Nöte, Jean Paul, Werke, I. Abteilung, Band 2, S. 308

[75] 45. Summula, Ende der Reisen und Nöte, Jean Paul, Werke, I. Abteilung, Band 2, S. 338

[76] 1. Brief des Barons Wallhorn an den Kapellmeister Kreisler, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, Poetische Werke in sechs Bänden, Berlin 1963, Band 1, S. 413

[77] Georg Forster, Werke, Band 3, S. 741f.

[78] Sudelbuch K, Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, Band 2, S. 451

[79] Neunte Sammlung, Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, 2 Bände, Berlin und Weimar 1971, Band 2, S. 215

[80] Erster Teil, Eduard Mörike: Sämtliche Werke, Band 1, S. 133

[81] Erster Aufzug, Joseph von Eichendorff, Werke, Band 1, S 845

[82] Erster Teil, Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, Band 5, S. 175

[83] Zweiter Teil, Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, Band 5, S. 215

[84] Euterpe, Mutter und Sohn, Goethe, Berliner Ausgabe, Band 3, S. 607

[85] Jeremias Gotthelf, Ausgewählte Werke, Band 5, S. 215

[86] Zweites Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 7, S. 119

[87] Sechstes Buch, Bekenntnisse einer schönen Seele, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 7, S. 394

[88] Achtes Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 7, S. 565

[89] Zweites Buch, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 8, S. 218f., 280f.

[90] Erster Band, Clemens Brentano, Werke, Band 2, S. 43

[91] Die Piccolomini, Erster Aufzug, Vierter Auftritt, Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Band 2, S. 330

[92] Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Band 5, S. 432

[93] Erster Teil, Bettina von Arnim, Werke und Briefe, Band 3, S. 87

[94] Der Verfasser gibt offen zu, daß für ihn der Weg zu den Erkenntnissen dieses Textes nur auf dem Umweg über den Computer, das Internet und die großartige Compact Disc »Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka« der Digitalen Bibliothek möglich war. Er hegt die Erwartung, daß andere über den Umweg ihres Interesses an der Literatur schließlich auch den Weg zum Computer, zum Internet und zur Digitalen Bibliothek finden mögen. Eine ausführlichere und in den Nachweisen vollständige Fassung dieses Textes ist bei UrsMüllerPlantenberg@compuserve.com zu bestellen.