Wirtschaftswachstum als Problem

Urs Müller-Plantenberg

Ein stetiges exponenzielles Wirtschaftswachstum ist nicht nur der Traum all derer, die sich in Europa mit den Problemen praktischer Wirtschafts- und Sozialpolitik auseinanderzusetzen haben, seine Möglichkeit ist auch die stille Voraussetzung ihrer Praxis. Wachstum erscheint ihnen nicht, wie manche kritische Stimme behauptet, als Selbstzweck, sondern als die wichtigste, wenn nicht einzige Lösung aller denkbaren Einzelprobleme. Was sie unterscheidet, ist nicht das prinzipielle Interesse an einem kontinuierlich hohen Wachstum, sondern die Vorstellung davon, wie es zu erreichen sei und zu welchen Zwecken es als Mittel eingesetzt werden soll. Nachfrageorientierte  Wirtschaftspolitik zielt ebenso auf dynamisches Wachstum wie angebotsorientierte, nur auf verschiedenen Wegen, die einander entgegengesetzt sind und sogar ausschließen. Die Verteidigung des Wohlfahrtsstaates sucht sich ihre Begründung ebenso in der Verbesserung der Chancen für ein dauerhaftes Wachstum wie der neoliberale Marktfetischismus einer Privatisierung um jeden Preis. Traditionalisten und Modernisierer, ja sogar Fundamentalisten und Realpolitiker streiten sich vor allem darüber, für welche Ziele der gesteigerte und zu steigernde Reichtum eingesetzt werden soll, für eine Verbesserung seiner Verteilung und/oder einen ökologischen Umbau oder für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen einer globalisierten Weltwirtschaft. Ohne ein stabiles exponenzielles Wachstum, so meinen sie alle, seien diese Ziele – und damit auch der Abbau von Arbeitslosigkeit und die  Abschaffung von Armut – nicht zu erreichen.

Exponenzielles Wachstum auf Dauer ist unmöglich

Dabei lässt sich schon mit den einfachsten Regeln der Mathematik feststellen, dass ein exponenzielles Wirtschaftswachstum praktisch nicht dauerhaft möglich ist, weil es im Prinzip unendlich wäre und notwendig irgendwann an die Grenzen unserer endlichen Welt stoßen würde. Die Endlichkeit des Erdballs und der uns umgebenden Natur würden spätestens dort spürbar werden, wo ihre Aufnahmekapazität für die Schadstoffe überschritten ist, die aus der exponenziell wachsenden Produktion erwachsen. Ebenso kann die Regenerationskraft der Natur hinsichtlich der Bereitstellung erneuerbarer Ressourcen nicht als unendlich gedacht werden. Durch Steigerung der Effizienz dieser und der erschöpfbaren Ressourcen oder durch unerschöpfliche Substitute (wie die Sonnenenergie) könnte diese Grenze sicher hinausgeschoben werden, und das Potenzial umwelttechnischen Fortschritts ist in den letzten Jahrzehnten auch eher unterschätzt worden; das ändert aber nichts daran, dass am Ende die Endlichkeit der Natur mit der Unendlichkeit exponenziellen Wirtschaftswachstums nicht zu vereinbaren ist.

Der technische Fortschritt hat seit der Industriellen Revolution zu einer enormen Steigerung der Arbeitsproduktivität geführt. Parallel dazu wird häufig angenommen, dass der umwelttechnische Fortschritt, verstanden im Sinne einer direkten oder indirekten Verminderung des Naturverbrauchs pro Produkteinheit, ebenso rasant gesteigert werden könne. Dabei wird aber übersehen, dass die Steigerung der Arbeitsproduktivität dadurch erreicht wurde, dass sich Arbeit durch Kapital und erhöhten Naturverbrauch immer stärker substitutieren ließ. Man mag nun noch so große Hoffnungen auf die “Wissensrevolution” setzen, dass es mit Hilfe des Wissens möglich sein solle, den Naturverbrauch so zu drosseln, dass dadurch dauerhaftes exponenzielles Wirtschaftswachstum möglich würde, ist – in schlechtem Sinne – utopisch (vgl. Priewe 1997:32f).

Eine jährliche Wachstumsrate von vier Prozent, wie sie in den sechziger Jahren in Europa noch allenthalben als dauerhaft möglich angesehen wurde, würde innerhalb von 60 Jahren zu einer Verzehnfachung der Produktion führen, eine Wachstumsrate von zwei Prozent immer noch zu mehr als einer Verdreifachung. Es ist auch bei großem Optimismus kaum vorstellbar, dass trotz allen umwelttechnischen Fortschritts Schadstoffbelastung und Ressourcenverbrauch bei einer solchen Steigerung der Produktion nicht an die von der Natur gesetzten Grenzen stoßen sollten. Es ist aber auch gar nicht einzusehen, dass bei dem schon jetzt existierenden Reichtum in den meisten Ländern Europas ein solches Wachstum nötig wäre, damit die Generationen der Kinder und Enkel in  die Lage kommen, die großen ökonomischen und sozialen Probleme ihrer Gesellschaften zu lösen: Reduzierung der öffentlichen Schulden, Armutsbekämpfung, Abbau der Arbeitslosigkeit und Reform der Alterssicherung in einer alternden Gesellschaft.

Noch dramatischer erscheint die Situation, wenn man den Anspruch der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ernst nimmt, ihren Rückstand der Produktion gegenüber Europa, Nordamerika und Japan aufzuholen. Dazu wären langfristig Wachstumsraten in diesen Ländern erforderlich, die weit oberhalb der genannten vier oder zwei Prozent liegen, Raten, wie sie tatsächlich von den sogenannten “Tigerstaaten” Ostasiens oder auch Chile zeitweilig erreicht wurden. Nimmt man hinzu, dass in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, so wird klar, dass auch bei größtem Optimismus hinsichtlich des umwelttechnischen Fortschritts erwartet werden muss, dass eine Verallgemeinerung solcher Wachstumsraten durch Verknappung der notwendigen Ressourcen an die von der Natur gesetzten Grenzen stoßen wird. Von der hierdurch ausgelösten Schadstoffbelastung ganz zu schweigen.

Sollten die Länder Westeuropas (und die USA und Japan) ein dauerhaftes exponenzielles Wirtschaftswachstum mit den aktuellen – im Vergleich zu den sechziger Jahren sogar schon niedrigen – Wachstumsraten durchsetzen können, so wird das notwendig zu einer weiteren Verschärfung der Monopolisierung des Ressourcenverbrauchs führen, der den übrigen Ländern der Welt den Weg in die Zukunft versperrt, und damit weltweite Verteilungskämpfe heraufbeschwören, die schließlich den Weltfrieden bedrohen. Das oft gebrauchte Bild von einem Land oder einer Region als Wachstumslokomotive, die die anderen Länder hinter sich her zieht, ist schon kurzfristig von höchst zweifelhafter Aussagekraft, langfristig führt es geraden Wegs in die Irre.

Exponenzielles Wachstum ist dauernd notwendig ...

So leicht es einzusehen ist, dass exponenzielles Wachstum auf Dauer unmöglich ist, so schwer ist es offenbar zu verstehen, warum nicht versucht werden sollte,  mittelfristig ein Wachstum mit möglichst stabilen Raten anzustreben. In der Tat gibt es Voraussetzungen, unter denen solches Streben sich als geradezu zwingend notwendig erweist. Das sind allerdings Voraussetzungen, die unter der Annahme geschaffen worden sind, dass exponenzielles Wachstum langfristig möglich und erreichbar sei. Sie funktionieren nach Art einer self-fulfilling prophecy: Wachstum ist notwendig, weil nur Wachstum die Probleme lösen kann, die entstanden sind, weil Wachstum eingeplant worden ist. Wenn die Rechnung nicht aufgeht, ist die einzige Schlussfolgerung, dass das Bemühen um Wachstum noch mehr gesteigert werden muss, um das zwischenzeitlich verlorene Terrain zurückzugewinnen.

... wegen der öffentlichen Verschuldung,

Am Beispiel der öffentlichen Verschuldung kann das am deutlichsten gezeigt werden. Als innerhalb der Europäischen Union die Mindestkriterien für den Beitritt zum Währungsgebiet des künftigen Euro festgelegt wurden, beschloss man, dass die öffentliche Verschuldung der einzelnen Länder nicht über 60 Prozent ihres Bruttosozialprodukts hinausgehen dürfe. Das war eine Grenze, die von den meisten Beitrittskandidaten gerade so erreicht wurde, von einzelnen Ländern wie Belgien und Italien aber weit überschritten wurde, also gewissermaßen der Normalzustand. Legt man für diese öffentlichen Schulden einen realen Zinssatz von fünf Prozent zu Grunde, so entsprechen die zu zahlenden Zinsen, wie man leicht ausrechnen kann, drei Prozent des Bruttosozialprodukts. Will man nun erreichen, dass dieses Kriterium auch in Zukunft eingehalten wird und dass gleichzeitig die existierende Gestaltungsmacht der öffentlichen Haushalte erhalten bleibt, so wäre ein Wirtschaftswachstum erforderlich, das diesen Haushalten ermöglicht, zusätzliche Einnahmen in Höhe von drei Prozent des Bruttosozialprodukts zu erzielen, also, wenn die meistens unter 50 Prozent liegende Staatsquote nicht noch steigen soll, ein Wachstum von mindestens sechs Prozent.

Da diese Wachstumsrate in Europa nur noch in seltenen Fällen erreicht wird, gibt es das Mittel der Nettoneuverschuldung. Sie dürfte – nach einem weiteren Kriterium für den Beitritt zum Währungsgebiet des Euro – drei Prozent des Bruttosozialprodukts nicht überschreiten, eine Hürde, die ebenfalls von den meisten beitrittswilligen Ländern nur äußerst knapp genommen wurde. Diese jährlich neu aufgenommenen Schulden würden, wie wir sehen, gerade ausreichen, die öffentlichen Haushalte aus ihrer aktuellen Zwangslage zu befreien, aber um den Preis, dass – ohne ein Wirtschaftswachstum von mindestens fünf Prozent – die Gesamtschuldenlast, gemessen am Bruttosozialprodukt, weiter wächst und der Gestaltungsspielraum der öffentlichen Haushalte noch weiter eingeschränkt wird.

Die Aufnahme von Schulden macht ökonomisch nur Sinn, wenn dem geliehenen Geld Investitionen gegenüberstehen, aus denen Erträge erwartet werden können, die die zu zahlenden Zinsen übersteigen werden. Da aber die Nettoneuverschuldung in der Regel nur genutzt wird, um bestehende Haushaltslöcher zu stopfen, und höchstens darauf geachtet wird, dass ihr irgendwelche Investitionen – unabhängig von dem zu erwartenden Ertrag – gegenüberstehen, ergibt sich eine Schuldenspirale, die gleichzeitig zu einer Einschränkung des Gestaltungsspielraums der öffentlichen Haushalte und zu noch intensiveren Bemühungen um ein hohes Wirtschaftswachstum führt. Beides geht auf Dauer zu Lasten der nachfolgenden Generationen.

Bei diesen Überlegungen wurde ein realer Zinssatz von fünf Prozent für die öffentlichen Schulden zu Grunde gelegt. Hierbei ist klar, dass ein sinkender oder sehr niedriger Zinssatz die Situation der öffentlichen Haushalte stark verbessern und den scheinbaren Zwang zu hohem Wachstum zwecks Schuldendienst zeitweilig aufheben kann. Ein dauerhaft niedriger Zinssatz ist aber wegen der zyklischen Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft undenkbar. So wird es irgendwann zu einer Steigerung des Zinssatzes kommen, die sich in einer überproportionalen Erhöhung der Zinsbelastung für die öffentlichen Haushalte ausdrückt und die Schuldenspirale noch beschleunigt, wenn an einer Lösung der Verschuldungsproblematik durch Wachstum festgehalten wird.

... wegen der Armutsbekämpfung,

Die in Europa weithin übliche Definition von Armut, wonach diejenigen arm sind, deren Einkommen weniger als das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Gesellschaft beträgt, gibt für unsere Betrachtung nicht viel her, weil wegen der Relativität dieser Definition danach auch Leute plötzlich als arm gelten könnten, die wegen eines hohen Wachstums des gesamtgesellschaftlichen Reichtums ihr Einkommen gesteigert haben, wenn auch weniger als der Durchschnitt. Diese Definition misst also eher die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums als die wirkliche Entwicklung der Zahl der Armen. Eine andere, häufig verwendete Definition von Armut hält sich statt dessen an relativ objektive Kriterien, etwa wenn als Arme diejenigen definiert werden, deren Einkommen geringer als das Doppelte des Betrages ist, der für einen zum Überleben notwendigen Korb von Lebensmitteln erforderlich ist.

Geht man von einer solchen, objektiven Definition von Armut aus, dann gibt es prinzipiell nur zwei Methoden, die Armut wirksam zu bekämpfen, nämlich entweder Einkommenstransfers von den reicheren Einkommensschichten zu den Armen oder eine Steigerung des Durchschnittseinkommens durch ein Wirtschaftswachstum, an dessen Erträgen auch die Armen teilhaben. Da sich die höheren Einkommensschichten in der Regel direkt nur mit Almosen an der Armutsbekämpfung beteiligen, bleiben für den ersten Weg nur die über den öffentlichen Sektor vermittelten Transfers über die Steuergesetzgebung, Sozialhilfe und alle anderen Formen staatlicher Beihilfe. Das Ausmaß der öffentlichen Verschuldung schränkt allerdings die Möglichkeiten für einen Zuwachs solcher Transfers aus den schon geschilderten Gründen immer stärker ein und forciert sogar ihre Rücknahme. Deshalb erscheint auch für die Armutsbekämpfung als scheinbar beste und günstigste Lösung ein Wirtschaftswachstum, von dem man sich erhofft, dass es auch zu einer Steigerung der niedrigeren Einkommen führt. Ganz in diesem Sinne hat Weltbank-Präsident James Wolfensohn zu Beginn seiner zweiten Amtszeit 1999 erklärt: “Wachstum und Armutsbekämpfung sind zwei Seiten einer Medaille.” (die tageszeitung, 2./3. Oktober 1999:10).

Unter der Annahme, dass Wachstum unter den Bedingungen eines freien Marktes kaum etwas an der Einkommensverteilung in einer Gesellschaft ändert[1], bedürfte es selbst in den reichen Ländern Westeuropas extrem hoher, in den letzten Jahren kaum erreichter Wachstumsraten, um die existierende Armut etwa in den nächsten zehn Jahren abzubauen. Entsprechend höher müssten die Wachstumsraten in den Schwellenländern Asiens und Lateinamerikas und – noch mehr – in den armen Ländern Afrikas sein.

... wegen der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit

Die Produktivität der Arbeit wird definiert durch die Menge des Produkts, das während einer bestimmten Arbeitszeit erzeugt wird. Steigt die Arbeitsproduktivität, so wird dieselbe Produktenmenge innerhalb kürzerer Arbeitszeit produziert. Da nun in den europäischen Ländern die Arbeitsproduktivität – wenn auch nach Branchen, Ländern, Perioden unterschiedlich – ständig wächst, bedeutet ein Zurückbleiben der Wachstumsrate hinter der durchschnittlichen Steigerungsrate der Arbeitsproduktivität, dass  in der gesamten Gesellschaft immer weniger Arbeitszeit aufgewendet werden muss und tatsächlich aufgewendet wird. Ob diese Verminderung der notwendigen Arbeitszeit durch steigende Arbeitslosigkeit, durch Genehmigung vorzeitigen Ruhestands, durch Teilung von Arbeitsplätzen und vermehrte Teilzeitarbeit, durch Abbau von Überstunden oder durch Verkürzung der Normalarbeitszeit erreicht wird, ist ein Problem, mit dem sich die Tarifpartner, die Regierungen und Parlamente und die einzelnen Beschäftigten auseinandersetzen müssen; in jedem Fall sinkt die Menge der gesamtgesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit.

In den sechziger Jahren, in denen in den meisten westeuropäischen Ländern Vollbeschäftigung herrschte, ist das Problem dadurch gelöst worden, dass die Normalarbeitszeit relativ drastisch verkürzt worden ist. Seit sich dieser Trend verlangsamt hat, ist es in fast allen dieser Länder zu einer chronischen, massiven Arbeitslosigkeit gekommen, weil in den Unternehmen der Abbau von Arbeitskräften in der Regel als die wirksamste Methode galt und gilt, die Arbeitsproduktivität (und die Gewinne) zu steigern. Die langsamere Arbeitszeitverkürzung und die Vermehrung der Teilzeitarbeit haben dann nicht ausgereicht, der steigenden Arbeitslosigkeit Einhalt zu gebieten.

Die wachsende Schere zwischen der Steigerungsrate der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität und der Wachstumsrate könnte im Prinzip auf zweierlei Weise geschlossen werden, entweder durch Drosselung des Tempos der Produktivitätssteigerungen oder durch Steigerung des Wirtschaftswachstums. Bei den in Westeuropa – im  Weltmaßstab – relativ hohen Löhnen (und Lohnnebenkosten) ist es aber nahezu unmöglich, Unternehmen zu finden, die auf angebotene, technisch mögliche Methoden und Investitionen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität verzichtet hätten. So erscheint auch hier ein möglichst hohes Wirtschaftswachstum, dessen Rate der Steigerungsrate der Arbeitsproduktivität entspricht, als die scheinbar einzige Lösung für eine wirksame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. (Darauf hingewiesen zu haben, dass diese Lösung nur scheinbar die einzige ist, ist vor allem auch ein Verdienst von André Gorz 1989). Zum Abbau der schon existierenden Arbeitslosigkeit allein über Wirtschaftswachstum wäre etwa in Deutschland eine Wachstumsrate nötig, die noch weit über der Steigerungsrate der Arbeitsproduktivität läge.

... und wegen der Alterssicherung

Die meisten europäischen Gesellschaften  haben den sogenannten “demografischen Übergang” hinter sich gebracht. Das hohe Bevölkerungswachstum, das zunächst durch ein schnelles Sinken der Sterberate erreicht wurde, hat mit dem Sinken auch der Geburtenrate einem sehr langsamen Wachstum, Stillstand oder sogar Rückgang der Bevölkerung Platz gemacht. Schon die Verlängerung der durchschnittlichen Lebensdauer hat – verstärkt noch durch die Auswirkungen der beiden Weltkriege – eine völlig veränderte Alterszusammensetzung der europäischen Gesellschaften bewirkt. Von der früher typischen Alters-“Pyramide” kann zudem überhaupt keine Rede mehr sein, seit immer mehr Menschen in Europa von der Aufzucht von Kindern absehen.

Die Alterssicherung, die früher ein rein interfamiliäres Problem war und erst mit dem Ausbau des Sozialstaats zu einer gesellschaftlichen Aufgabe gemacht wurde, sieht sich durch diese Veränderungen vor quantitativ immer größere Probleme gestellt. Immer weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter wird die Sorge für die Alterssicherung von immer mehr alten Menschen aufgebürdet. Die staatlich organisierten Umlageverfahren lassen sich daher nur durch eine relative Anpassung der Lasten und Ansprüche über die Zeit retten. Unter den Wählerinnen  und Wählern wächst aber gerade der Anteil der Alten, die einem Zurückschrauben ihrer Ansprüche wachsenden Widerstand entgegensetzen. Dagegen reagieren viele Jüngere auf die wachsenden Lasten, indem sie, wo es möglich ist, aus dem System der Generationensolidarität aussteigen und Möglichkeiten der Alterssicherung bei privaten Versicherungen suchen.

Eine stabile hohe Wachstumsrate erscheint auch hier wieder als das einfachste Mittel, die Probleme zu lösen. Sie würde gestatten, auf eine reale Senkung der Altersrenten zu verzichten, selbst wenn das Rentenniveau – im Vergleich zur Lohnentwicklung – nicht gehalten werden könnte. Und sie würde der jüngeren Generation erlauben, aus höheren Einkommen die Kosten zusätzlich notwendiger privater Altersversicherungen zu finanzieren. Es ist deshalb nur zu verständlich, dass die für die Zukunft der Systeme sozialer Sicherung zuständigen Fachleute voll auf hohe Wachstumsraten als die einzig wirksame Lösung der kommenden Probleme setzen.

Exponenzielles Wachstum gibt es gar nicht

Die westeuropäischen Gesellschaften haben also, wie wir sehen, ihre Finanz- und Sozial-Systeme in einer Weise eingerichtet, dass ein dauerhaft hohes, exponenzielles Wachstum die Voraussetzung für ihr weiteres Funktionieren ist. Sie zielen damit auf eine Entwicklung, die in unverantwortlicher Weise den Ressourcenverbrauch und die Schadstoffbelastung steigern und damit auf die von der Natur gesetzten Grenzen stoßen würde, erst recht, wenn es den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas gelänge, diese Entwicklung nachzuvollziehen und dabei ihren Rückstand aufzuholen.

Zum Glück für die Gesellschaften, aber zum Unglück für ihre Finanz- und Sozial-Systeme gibt es jedoch dieses exponenzielle Wachstum gar nicht, vielmehr ist die Wachstumsrate in den letzten Jahrzehnten stetig, wenn auch mit konjunkturellen Schwankungen, gesunken. Als Beispiel mag die tatsächliche Entwicklung des Bruttoinlandprodukts in den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland dienen, die in der folgenden Tabelle und dem Schaubild nachgezeichnet werden. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung – ausgedrückt in DM von 1991 – wuchs in den letzten 45 Jahren durchschnittlich jährlich nicht um einen bestimmten Prozentsatz, sondern um eine bestimmte Summe, nämlich um 712 DM (von 1991), und das heißt: linear. Jede Person in Westdeutschland wurde also im Schnitt pro Jahr um diese Summe reicher. Und dieser Durchschnitt ergibt sich ungefähr auch für jede Konjunkturperiode, egal ob vom jeweiligen Tief zum nächsten Tief oder vom jeweiligen Hoch zum nächsten Hoch gerechnet. Einzig und allein in der Restaurationsperiode der fünfziger Jahre lag diese Summe mit über 800 DM (von 1991) geringfügig über dem langfristigen Mittel.

Tabelle

Durchschnittliche jährliche Steigerung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf
zwischen jeweils zwei Wendepunkten des konjunkturellen Zyklus
im früheren Bundesgebiet in DM von 1991

 

Zeitspanne

durchschnittliche Steigerung

 

von Tief zu Tief

von Hoch zu Hoch

1950–1958

804

 

1955–1960

 

822

1958–1967

666

 

1960–1973

 

769

1967–1975

760

 

1973–1979

 

767

1975–1982

669

 

1979–1991

 

745

1982–1993

700

 

 


Schaubild

Quelle: Die Daten stützen sich auf Tabellen aus den Jahresgutachten des Sachverständigenrates von 1973 (Tab. 14 und 20, S. 206 und 217) und von 1997 (Tab. 21 und 34, S. 317 und 339).

 

Dieses – in Werten und physischer Menge – außerordentlich gleichmäßige Wachstum entsprach Anfang der fünfziger Jahre in Zeiten relativer Armut einer Zuwachsrate von acht Prozent und begründete damit den Mythos vom Wirtschaftswunder, während es zu Beginn der neunziger Jahre bei erheblich gestiegenem Volumen der Produktion nur noch eine Zuwachsrate von etwa 1,7 Prozent ausmacht (vgl. dazu Müller-Plantenberg 1998:332ff, Reuter 1998:36ff und Afheldt 1994:20ff). Dieses lineare Wachstum mit sinkender Wachstumsrate ist nicht etwa eine Sonderentwicklung der Bundesrepublik Deutschland, sondern für westeuropäische Industriegesellschaften charakteristisch (vgl. die Daten zu Frankreich und Großbritannien bei Afheldt 1994:243f).

Die Vorstellung einer – von konjunkturellen Schwankungen abgesehen – konstanten Wachstumsrate war nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa in der ökonomischen Theorie und der wirtschaftspolitischen Praxis so beherrschend, dass man sich durch die von Konjunktur zu Konjunktur zurückgehenden Wachstumsraten jeweils allenfalls dazu hat hinreißen lassen, von nun an die etwas niedrigeren Wachstumsraten der letzten Periode als nunmehr realistische Rate in die Zukunft zu extrapolieren und die Finanz und Sozial-Systeme daran auszurichten.

Selbst ein so kritischer Wissenschaftler wie der ungarische Ökonom Franz Jánossy (1966), der die hohen Wachstumsraten im Europa der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – die sogenannten “Wirtschaftswunder” – als typische Phänomene von Restaurationsperioden analysiert hat, war sich sicher, dass die wirtschaftliche Entwicklung auf der Basis des technischen Fortschritts einerseits und der Trägheit der Qualifikationsstruktur der Arbeitskraft andererseits notwendig auf eine Trendlinie dauerhaften, wenn auch niedrigeren exponenziellen Wachstums einmünden müsse.

Für die Keynesianer unter den Wirtschaftspolitikern hatte diese Sichtweise den zusätzlichen Effekt, dass in der Mehrzahl der Jahre die Wachstumsrate als unterdurchschnittlich gelten musste und deshalb eine durch staatliche Schulden finanzierte Nachfragesteigerung rechtfertigen konnte, was nicht unerheblich zur steigenden öffentlichen Verschuldung beigetragen hat.

Um die existierende Arbeitslosigkeit über Wirtschaftswachstum auch nur allmählich abzubauen und das System sozialer Sicherung auf diesem Wege wenigstens für einige Zeit zu stabilisieren, wäre, wie man leicht nachrechnen kann, für einen Zeitraum von zehn Jahren eine Verdoppelung der gegenwärtigen Wachstumsraten und damit langfristig ein Trend erforderlich, wie ihn die ökonomisch so ungeheuer erfolgreiche Bundesrepublik Deutschland auch in den Zeiten blühender Hochkonjunktur nie erlebt hat, nämlich weit oberhalb des bisherigen Trends. Eine solche Entwicklung in Fahrt zu bringen, wäre nicht nur ökologisch sehr bedenklich, sondern auch praktisch unmöglich. Dass es so schwer ist, die Erkenntnis dieser Tatsache in der finanz-, wirtschafts- und sozialpolitischen Praxis zum Ausgangspunkt zu machen, liegt daran, dass alle Alternativen mit Opfern verbunden und deshalb politisch schwer zu verkaufen sind.

Schon Karl Marx hat geschrieben, dass selbst “eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, ... nicht Eigentümer der Erde (sind). Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.” (1964:784). Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung, wie er heute gebraucht wird, verlangt nicht einmal eine solche Verbesserung, sondern beschränkt sich auf die Forderung, dass die Situation der nachfolgenden Generationen wenigstens nicht verschlechtert wird. Aber schon nachhaltige Entwicklung in diesem Sinne ist mit der wachstumseuphorischen Klammerung an imaginäre Zuwachsraten völlig unvereinbar. Diese verschärft die Probleme und bürdet ihre – dann umso schwerere – Lösung den kommenden Generationen auf, die heute noch kein Stimmrecht haben.

Auch lineares Wachstum birgt auf Dauer Probleme

Wenn das Bruttoinlandsprodukt eines Landes linear und nicht exponentiell ansteigt, führt das im Prinzip natürlich auch ins Unendliche und damit an die von der Natur gesetzten Grenzen, allerdings wesentlich langsamer und so, dass die Menschheit sich auf die Lösung der damit verbundenen Probleme wesentlich gründlicher vorbereiten kann. Extrapoliert man den linearen Zuwachs der Produktion in der Bundesrepublik Deutschland in die Zukunft, so würde von heute an in sechzig Jahren eine Verdoppelung und nicht eine Verdreifachung oder gar Verzehnfachung wie bei konstanten Wachstumsraten von zwei bzw. vier Prozent stattfinden. Das ist bedeutend weniger, wenn auch bei dem schon heute erreichten gesellschaftlichen Reichtum immer noch sehr viel. Eine Politik, die nicht mehr auf Wachstum um jeden Preis zielen würde, sondern sich auf den real existierenden, relativ niedrigen Zuwachs einstellen würde, könnte auch mehr Zeit und Kraft darauf verwenden, das Wachstum des Sozialprodukts von einer Zunahme des Ressourcenverbrauchs und der Schadstoffemissionen zu entkoppeln, wie das in der ökologischen Diskussion für möglich gehalten wird (vgl. Priewe 1998:33). Wie hoch man aber auch immer die segensreichen Wirkungen der “Wissensgesellschaft” und des Strukturwandels von der Industrie zum Dienstleistungssektor einschätzen mag, die Vorstellung, dass andauerndes Wachstum des Sozialprodukts eines Tages mit einem Rückgang der materiellen Produktion Hand in Hand gehen könnte, ist nicht nachzuvollziehen.

Politische Verantwortung würde heute gebieten, die Finanz- und Sozial-Systeme so zu gestalten, dass sie auch bei sinkenden Wachstumsraten oder sogar ohne Wachstum funktionieren können. Ein Blick auf die sich stellenden Aufgaben zeigt allerdings, wie schwierig und unpopulär diese Vorhaben zwangsläufig sind.

Verzichtet man auf Wachstum als Lösung aller Probleme, dann

§        ist das Problem der öffentlichen Überschuldung nur durch drastische Einsparungen in den öffentlichen Haushalten zu lösen,

§        kann die Armutsbekämpfung nur durch – direkte oder indirekte – reale Transfers von den reicheren zu den ärmeren Schichten der Gesellschaft erreicht werden,

§        kann das Problem der Arbeitslosigkeit nur durch Umverteilung der Arbeit einschließlich massiver Arbeitszeitverkürzung überwunden werden und

§        muss die heute ältere Generation zur dauerhaften Sicherung der Rentensysteme durch eine relative Senkung ihrer Ansprüche beitragen.

Wären diese Probleme schon seit den siebziger Jahren systematisch angepackt worden, würden  sie heute nicht als fast schon unlösbar erscheinen. Schiebt man sie jetzt noch weiter vor sich her, so finden sie ihre eigene Lösung langsam aber sicher in der Form von inflationären (oder bisweilen auch deflationären) Prozessen, die sich endlich in Katastrophen entladen: Staatsbankrott, Massenarmut, Massenarbeitslosigkeit, Rentenschwund. Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, heißt es bei Hölderlin. Soviel ist klar: Das Rettende kann nicht im Wachstum liegen, sondern nur darin, dass sich Ökonomie, Politik und Gesellschaft besinnen, die Wirklichkeit wahrnehmen und in Vernunft üben.

Literatur

Horst Afheldt, Wohlstand für niemand? Die Marktwirtschaft entläßt ihre Kinder, München 1994

André Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft, Berlin 1989

Franz Jánossy, Das Ende der Wirtschaftswunder, Frankfurt am Main 1966

Karl Marx, Das Kapital, Band 3, Marx-Engels-Werke Band 25, Berlin 1964

MIDEPLAN (Ministerio de Planificación y Cooperación) (1988, 1991, 1993, 1995, 1997), Encuestas de Caracterización Socioeconómica Nacional (CASEN), Santiago de Chile

Urs Müller-Plantenberg, Zukunftsverbrauch, in: Michael Heinrich und Dirk Messner (Hrsg.), Globalisierung und Perspektiven linker Politik, Festschrift für Elmar Altvater, Münster 1998, auch in: Kommune, Heft 9, September 1998

Jan Priewe, Leitplanken statt Schranken, in: Politische Ökologie, Sonderheft 11: Wege aus der Wachstumsfalle, 16. Jahrgang, Januar/Februar 1998

Norbert Reuter, Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität, Wirtschaftspolitische Leitbilder zwischen Gestern und Morgen, Marburg 1998



[1] Diese Annahme ist realistisch, wie das Beispiel Chiles zeigt. In diesem Land, in dem die Prinzipien neoliberaler Wirtschaftspolitik seit 1973 am längsten und konsequentesten befolgt worden sind, hat es in den neun Jahren zwischen 1987 und 1996 bei jährlichen Wachstumsraten von etwa sechs Prozent so gut wie keine Veränderung der Einkommensverteilung gegeben: Das reichste Zehntel der Bevölkerung war am Anfang wie am Ende der Periode mit 41,3 Prozent am Gesamteinkommen beteiligt, das ärmste Zehntel anfangs mit 1,5 Prozent, am Ende mit 1,4 Prozent. Wegen der hohen Wachstumsrate sank der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung in dieser Periode von 45 auf 23 Prozent (vgl. MIDEPLAN 1988, 1991, 1993, 1995 und 1997).